Downloads temporarily removed for testing purposes

9. IV. 16

An Rothberger Rechnung beglichen per Erlagschein mit 130 Kronen statt 135. Brief mit Motivierung. —

Weisse erscheint um 10h; führt ein älteres Lied nach einer Korrektur von mir umgearbeitet vor. Nun bedeute ich ihm aber, daß wir von nun ab den Sonntag zu Ausflügen ins Freie benutzen wollen. ‒ Leider läßt sich für diesen Tag die Versäumnis des Spazierganges nicht mehr einholen. —

— An Frau Pairamall (Br.); ersuche sie, die Saison mit Ende März als abgeschlossen zu betrachten u. gebe zu verstehen, daß ich nunmehr das Honorar im Betrage von 960 Kronen eingesendet wünsche. – Copie. —

*

Liebknecht provociert im Reichstag einen Skandal; 1 sicher eine patologische [sic] Erscheinung u. schon vom Vater her erblich belastet, der s. Z. in heftigster Weise für die Schuld Dreyfuß’ demonstrierte. Ein Menschenschlag, der ohne Unterschied jede kompakte Meinung anderer, sofern sie eine von seiner differierende ist, als sein Kreuz empfindet, den Märtyrer posiert u. hierbei nur tollwütigste Eitelkeit zur Schau trägt. —

*

{191} Sozialismus spielt heute eine genau so verlorene Rolle, wie bis vor Kurzem der Liberalismus. Wie dieser sich der Einbildung ergab, ganz allein für die Verwirklichung der Menschheitsideale zu sorgen, ohne aber dafür positive Resultate beizubringen, ebenso posiert heute die Sozialdemokratie die einzige Pächterin aller Güter, auch wenn sie nur die Arbeiterlöhne im Auge hat. Nachdem das allgemeine Wahlrecht gegeben wurde, ist aber der Sozialdemokratie das Lebenslicht ausgeblasen worden u. sie vermag seither keine Formel zu finden, die sie so schlagend wie jene vom allgemeinen Wahlrecht auf ihre Fahne schreiben könnte. Sie drischt daher Phrasen wie der Liberalismus, deklamirt ständig vom Frieden, als wäre außer ihr alle anderen, Fürsten, Staatsmänner wie Parteien für den Krieg usf. —

*

Wie das Einzelgenie im wörtlichen Sinn über seiner eigenen [recte seine eigene] Körperlichkeit stolpert, so stolpert es auch im weiteren Verstande des Wortes übertragenen über der gesamten [recte die gesamte] Körperlichkeit der Menschheit.

*

Nachdem der Mensch es fertiggebracht hatte, die Natur in Geschlechtsdingen zu korrumpieren, so rächt sich diese damit, daß sie ihm zur Geschlechtsbestätigung nicht mehr eben einen wirklichen natürlichen Drang, sondern nurmehr eine stark aufgeputzte genitalische Eitelkeit zur Verfügung stellt. Kein Zweifel besteht für mich, daß darin ungleich mehr Tragödie steckt, als im Sündenfall selbst.

*

Weisse gegenüber betonte ich die absolute Ausgestaltung meiner Arbeit, von der ich jegliches Schielen nach Zeitgenossen von heute oder morgen fernhalte!

*

© Transcription Marko Deisinger.

April 9, 1916.

To Rothberger: invoice paid by payment slip, for 130 Kronen instead of 135. Letter with explanation. —

Weisse appears at 10 o’clock, plays a somewhat old song, reworked after a set of corrections from me. Now I indicate to him, however, that from now on we would like to use Sundays for excursions in the open air. ‒ Unfortunately, for this day, we are no longer able to make up for the loss of a walk. —

— To Mrs. Pairamall (letter); I ask her to consider her lesson season as having finished at the end of March, and make it clear that I would still like her to send me the lesson fee, which amounts to 960 Kronen. – Copy [of the letter made]. —

*

Liebknecht provokes a scandal in the Reichstag; 1 to be sure, a pathological manifestation and a burden he has inherited from his father, who had previously demonstrated in the most vehement way for Dreyfus’s guilt. A breed of people who, without making differentiations, treat every solidly based opinion of others, if they differ from their own, as a cross to bear, who play the part of a martyr and in doing so manifest only the most fervent vanity. —

*

{191} Socialism today plays just as forsaken a role as had, until recently, liberalism. As the latter gave the illusion of caring entirely on its own for the realization of human ideals, without however contributing positive results to it, so social democracy presents itself today as the sole tenant of all material goods, even if it has its eyes only on workers’ wages. After universal suffrage was granted, social democracy’s flame of life has been blown out; and since then it has been unable to find any formula for its banner which has as much of a punch as that of universal suffrage. Thus it thrashes out phrases, like liberalism, constantly cries out for peace, as if everyone but itself – princes, statemen, political parties, and so on – were in favor of war. —

*

As the individual genius literally stumbles over his own corporeality, so it also stumbles figuratively over the entire corporeality of humanity.

*

After humans had succeed in corrupting nature in sexual matters, nature took revenge by providing sexual activity no longer as a real, natural thing but merely as a highly stylized genital vanity. I have no doubt that herein lies incomparably more tragedy than in the Fall of Man itself.

*

In front of Weisse, I stressed the absolute construction of my work, of which I shall refrain from making any sidewards glances at present or future contemporaries!

*

© Translation William Drabkin.

9. IV. 16

An Rothberger Rechnung beglichen per Erlagschein mit 130 Kronen statt 135. Brief mit Motivierung. —

Weisse erscheint um 10h; führt ein älteres Lied nach einer Korrektur von mir umgearbeitet vor. Nun bedeute ich ihm aber, daß wir von nun ab den Sonntag zu Ausflügen ins Freie benutzen wollen. ‒ Leider läßt sich für diesen Tag die Versäumnis des Spazierganges nicht mehr einholen. —

— An Frau Pairamall (Br.); ersuche sie, die Saison mit Ende März als abgeschlossen zu betrachten u. gebe zu verstehen, daß ich nunmehr das Honorar im Betrage von 960 Kronen eingesendet wünsche. – Copie. —

*

Liebknecht provociert im Reichstag einen Skandal; 1 sicher eine patologische [sic] Erscheinung u. schon vom Vater her erblich belastet, der s. Z. in heftigster Weise für die Schuld Dreyfuß’ demonstrierte. Ein Menschenschlag, der ohne Unterschied jede kompakte Meinung anderer, sofern sie eine von seiner differierende ist, als sein Kreuz empfindet, den Märtyrer posiert u. hierbei nur tollwütigste Eitelkeit zur Schau trägt. —

*

{191} Sozialismus spielt heute eine genau so verlorene Rolle, wie bis vor Kurzem der Liberalismus. Wie dieser sich der Einbildung ergab, ganz allein für die Verwirklichung der Menschheitsideale zu sorgen, ohne aber dafür positive Resultate beizubringen, ebenso posiert heute die Sozialdemokratie die einzige Pächterin aller Güter, auch wenn sie nur die Arbeiterlöhne im Auge hat. Nachdem das allgemeine Wahlrecht gegeben wurde, ist aber der Sozialdemokratie das Lebenslicht ausgeblasen worden u. sie vermag seither keine Formel zu finden, die sie so schlagend wie jene vom allgemeinen Wahlrecht auf ihre Fahne schreiben könnte. Sie drischt daher Phrasen wie der Liberalismus, deklamirt ständig vom Frieden, als wäre außer ihr alle anderen, Fürsten, Staatsmänner wie Parteien für den Krieg usf. —

*

Wie das Einzelgenie im wörtlichen Sinn über seiner eigenen [recte seine eigene] Körperlichkeit stolpert, so stolpert es auch im weiteren Verstande des Wortes übertragenen über der gesamten [recte die gesamte] Körperlichkeit der Menschheit.

*

Nachdem der Mensch es fertiggebracht hatte, die Natur in Geschlechtsdingen zu korrumpieren, so rächt sich diese damit, daß sie ihm zur Geschlechtsbestätigung nicht mehr eben einen wirklichen natürlichen Drang, sondern nurmehr eine stark aufgeputzte genitalische Eitelkeit zur Verfügung stellt. Kein Zweifel besteht für mich, daß darin ungleich mehr Tragödie steckt, als im Sündenfall selbst.

*

Weisse gegenüber betonte ich die absolute Ausgestaltung meiner Arbeit, von der ich jegliches Schielen nach Zeitgenossen von heute oder morgen fernhalte!

*

© Transcription Marko Deisinger.

April 9, 1916.

To Rothberger: invoice paid by payment slip, for 130 Kronen instead of 135. Letter with explanation. —

Weisse appears at 10 o’clock, plays a somewhat old song, reworked after a set of corrections from me. Now I indicate to him, however, that from now on we would like to use Sundays for excursions in the open air. ‒ Unfortunately, for this day, we are no longer able to make up for the loss of a walk. —

— To Mrs. Pairamall (letter); I ask her to consider her lesson season as having finished at the end of March, and make it clear that I would still like her to send me the lesson fee, which amounts to 960 Kronen. – Copy [of the letter made]. —

*

Liebknecht provokes a scandal in the Reichstag; 1 to be sure, a pathological manifestation and a burden he has inherited from his father, who had previously demonstrated in the most vehement way for Dreyfus’s guilt. A breed of people who, without making differentiations, treat every solidly based opinion of others, if they differ from their own, as a cross to bear, who play the part of a martyr and in doing so manifest only the most fervent vanity. —

*

{191} Socialism today plays just as forsaken a role as had, until recently, liberalism. As the latter gave the illusion of caring entirely on its own for the realization of human ideals, without however contributing positive results to it, so social democracy presents itself today as the sole tenant of all material goods, even if it has its eyes only on workers’ wages. After universal suffrage was granted, social democracy’s flame of life has been blown out; and since then it has been unable to find any formula for its banner which has as much of a punch as that of universal suffrage. Thus it thrashes out phrases, like liberalism, constantly cries out for peace, as if everyone but itself – princes, statemen, political parties, and so on – were in favor of war. —

*

As the individual genius literally stumbles over his own corporeality, so it also stumbles figuratively over the entire corporeality of humanity.

*

After humans had succeed in corrupting nature in sexual matters, nature took revenge by providing sexual activity no longer as a real, natural thing but merely as a highly stylized genital vanity. I have no doubt that herein lies incomparably more tragedy than in the Fall of Man itself.

*

In front of Weisse, I stressed the absolute construction of my work, of which I shall refrain from making any sidewards glances at present or future contemporaries!

*

© Translation William Drabkin.

Footnotes

1 "Eine stürmische Szene im deutschen Reichstage," Neues Wiener Tagblatt, No. 99, April 9, 1916, 50th year, pp. 3-4.