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OJ 15/16, [58] - Handwritten letter from Weisse to Schenker, dated October 27, 1927
lassen Sie mich Ihnen, wenn auch in Eile, mit wenigen Worten sagen, mit welchem Genuss ich „Meisterwerk II“ gelesen habe und noch lese. „Das Organische der Fuge“ ist prachtvoll – nicht minder das „Organische der Sonatenform“. Welchen Reichtum enthalten aber auch die Urlinie Betrachtungen, bei denen Sie ja dem Leser ganze Urlinien stillschweigend überlassen. Die Auseinandersetzung mit Schönberg finde ich ausserordentlich, nur fürchte {2} ich, werden die meisten Leser nicht den Durchgangsbegriff in Ihrem Sinne, und daher deshalb auch das Resultat der Polemik nicht verstehen können. Das Urteil über Strawinsky halte ich gradezu für „klassisch.“ Die Sätze von: „Meine Beweisführung gibt mir das Recht“ auf Seite 39 finde ich in ihrer Einfachheit und Vollkraft wirklich erhebend. Mir persönlich erscheint die Abfertigung des Regerschen Werkes genügend, doch fürchte ich, wird Ihnen das Odium der Voreingenommenheit bei der Kürze, mit der Sie die Fuge blos streifen, nicht erspart bleiben. Auch muß ich gestehn, dass in einem Werke, worin das Organische der {3} Fugenform so meisterhaft dargestellt ist, das Gegenbeispiel: das Unorganische, dessen diese Form, wo sie misverstanden wird, fähig ist, von Ihnen hätte vielleicht wirklich auch meisterhaft dargestellt werden müssen, schon aus rein künstlerischen Gründen der Darstellung. Diese Versäumnis ist für mich der einzige dunkle Punkt an diesem Werke. Besonders glücklich ist Ihnen die optische Darstellung der Nocturne op 15 No 2 gelungen! Dazu ist wirklich schon jedes Wort überflüssig geworden. Ihrem Absatz zum „ersten Urlinieton durch Anstieg“ würde ich einen: „zum ersten Urlinieton durch Abstieg“ gerne gegenüber {4} gestellt sehen, dorthin gehörten meiner Meinung nach Beispiel fig 6, 2 mit deren Lesart von Ć aus ich mich über einer Stufe nicht befreunden kann. Die Urlinie hiesse konsequenter Weise Ą ă Ă, wobei die Ą von der Ć aus im gleichen Klange durch Abstieg als Kopfton herbeigeführt wird! — 3 (Das einzig Unverständliche und Willkürliche scheint mir die Art wie Sie in op. 10 No 2 den ersten Gedanken in einem einzigen f untergehen lassen: doch darüber mündlich mehr – und hoffentlich bald!) Ich hatte so sehr das Bedürfnis mich Ihnen mitzuteilen, entschuldigen Sie bitte die Eile mit in der ich es tue. Ich beglückwünsche Sie aus vollstem Herzen und danke Ihnen gleichzeitig vielmals. © Transcription William Drabkin, 2013 |
Permit me to tell you, albeit in haste and in a few words, with what pleasure with which I have read and continue to read Meisterwerk 2 . "The Organic Nature of Fugue" is magnificent – no less so is the "Organic Nature of Sonata Form." But what riches are also contained in the "Considerations of the Urlinie," in which you tacitly provide the reader with full and complete Urlinie graphs. The confrontation with Schoenberg I find extraordinary, but I fear {2} that most readers will be unable to understand the concept of "passing tone" as you intend it, and therefore the result of the polemic. The judgment of Stravinsky I regard as a real "classic." The sentences on p. 39 beginning with "My line of reasoning gives me the right ..." I find truly uplifting in their simplicity and full vigor. For me, personally, your dispatch of Reger's work is sufficient; yet I fear that you will not be spared the odium for the bias you show by the brevity with which you merely in merely touch on the Fugue. I must also admit that, in a work in which the organic nature of {3} fugal form is represented so masterfully, the counterexample – the unorganic nature, of which this form is capable when it it is misundertood – should perhaps also ought to have been demonstrated in a truly masterful way, merely out of purely artistic reasons of presentation. This omission is, for me, the only black mark in the work. You succeed especially well in the optic representation of the Nocturne Op. 15, No. 2! For this, words are indeed superfluous. Instead of your phrase about the "first tone of the Urlinie, by means of ascent," I would have rather seen "to the first tone of the Urlinie, by means of descent"; {4} to that place also belongs, in my opinion, the example given in Fig. 6, 2 with whose reading from Ć I cannot bring myself to agree. The Urlinie would logically be Ą ă Ă, whereby the Ą, proceeding from the Ć by means of a leap under a single harmony, is made to become the primary tone! 3 (The only incomprehensible and arbitrary thing, in my view, seems to be the way in which you allow a single f to stand for the first subject of Op. 10, No. 2; but more about that in person – and, I hope, soon!) I had such a great urge to communicate this to you; please excuse the haste with which I do so. I congratulate you with all my heart and at the same time send you many thanks. © Translation William Drabkin, 2013 |
lassen Sie mich Ihnen, wenn auch in Eile, mit wenigen Worten sagen, mit welchem Genuss ich „Meisterwerk II“ gelesen habe und noch lese. „Das Organische der Fuge“ ist prachtvoll – nicht minder das „Organische der Sonatenform“. Welchen Reichtum enthalten aber auch die Urlinie Betrachtungen, bei denen Sie ja dem Leser ganze Urlinien stillschweigend überlassen. Die Auseinandersetzung mit Schönberg finde ich ausserordentlich, nur fürchte {2} ich, werden die meisten Leser nicht den Durchgangsbegriff in Ihrem Sinne, und daher deshalb auch das Resultat der Polemik nicht verstehen können. Das Urteil über Strawinsky halte ich gradezu für „klassisch.“ Die Sätze von: „Meine Beweisführung gibt mir das Recht“ auf Seite 39 finde ich in ihrer Einfachheit und Vollkraft wirklich erhebend. Mir persönlich erscheint die Abfertigung des Regerschen Werkes genügend, doch fürchte ich, wird Ihnen das Odium der Voreingenommenheit bei der Kürze, mit der Sie die Fuge blos streifen, nicht erspart bleiben. Auch muß ich gestehn, dass in einem Werke, worin das Organische der {3} Fugenform so meisterhaft dargestellt ist, das Gegenbeispiel: das Unorganische, dessen diese Form, wo sie misverstanden wird, fähig ist, von Ihnen hätte vielleicht wirklich auch meisterhaft dargestellt werden müssen, schon aus rein künstlerischen Gründen der Darstellung. Diese Versäumnis ist für mich der einzige dunkle Punkt an diesem Werke. Besonders glücklich ist Ihnen die optische Darstellung der Nocturne op 15 No 2 gelungen! Dazu ist wirklich schon jedes Wort überflüssig geworden. Ihrem Absatz zum „ersten Urlinieton durch Anstieg“ würde ich einen: „zum ersten Urlinieton durch Abstieg“ gerne gegenüber {4} gestellt sehen, dorthin gehörten meiner Meinung nach Beispiel fig 6, 2 mit deren Lesart von Ć aus ich mich über einer Stufe nicht befreunden kann. Die Urlinie hiesse konsequenter Weise Ą ă Ă, wobei die Ą von der Ć aus im gleichen Klange durch Abstieg als Kopfton herbeigeführt wird! — 3 (Das einzig Unverständliche und Willkürliche scheint mir die Art wie Sie in op. 10 No 2 den ersten Gedanken in einem einzigen f untergehen lassen: doch darüber mündlich mehr – und hoffentlich bald!) Ich hatte so sehr das Bedürfnis mich Ihnen mitzuteilen, entschuldigen Sie bitte die Eile mit in der ich es tue. Ich beglückwünsche Sie aus vollstem Herzen und danke Ihnen gleichzeitig vielmals. © Transcription William Drabkin, 2013 |
Permit me to tell you, albeit in haste and in a few words, with what pleasure with which I have read and continue to read Meisterwerk 2 . "The Organic Nature of Fugue" is magnificent – no less so is the "Organic Nature of Sonata Form." But what riches are also contained in the "Considerations of the Urlinie," in which you tacitly provide the reader with full and complete Urlinie graphs. The confrontation with Schoenberg I find extraordinary, but I fear {2} that most readers will be unable to understand the concept of "passing tone" as you intend it, and therefore the result of the polemic. The judgment of Stravinsky I regard as a real "classic." The sentences on p. 39 beginning with "My line of reasoning gives me the right ..." I find truly uplifting in their simplicity and full vigor. For me, personally, your dispatch of Reger's work is sufficient; yet I fear that you will not be spared the odium for the bias you show by the brevity with which you merely in merely touch on the Fugue. I must also admit that, in a work in which the organic nature of {3} fugal form is represented so masterfully, the counterexample – the unorganic nature, of which this form is capable when it it is misundertood – should perhaps also ought to have been demonstrated in a truly masterful way, merely out of purely artistic reasons of presentation. This omission is, for me, the only black mark in the work. You succeed especially well in the optic representation of the Nocturne Op. 15, No. 2! For this, words are indeed superfluous. Instead of your phrase about the "first tone of the Urlinie, by means of ascent," I would have rather seen "to the first tone of the Urlinie, by means of descent"; {4} to that place also belongs, in my opinion, the example given in Fig. 6, 2 with whose reading from Ć I cannot bring myself to agree. The Urlinie would logically be Ą ă Ă, whereby the Ą, proceeding from the Ć by means of a leap under a single harmony, is made to become the primary tone! 3 (The only incomprehensible and arbitrary thing, in my view, seems to be the way in which you allow a single f to stand for the first subject of Op. 10, No. 2; but more about that in person – and, I hope, soon!) I had such a great urge to communicate this to you; please excuse the haste with which I do so. I congratulate you with all my heart and at the same time send you many thanks. © Translation William Drabkin, 2013 |
Footnotes1 Receipt of this letter is recorded in Schenker's diary at OJ 4/1, p. 3127 (October 27, 1927): "Von Weisse (Br.): über das Jhrb. II. Denke sich manches anders – bedauert am meisten, daß ich die Fuge von Reger nicht ebenso gründlich zurückgewiesen habe, wie die Variationen. Die ständige Angst, die ihn kennzeichnet, hindert den sonst so gebildeten Menschen die nötige Erklärung aus Eigenem herbeizuschaffen. Sie lag ja hier so nahe: erstens habe ich durch so u. soviele Variationen den Satz Regers bloßgestellt, so daß eine weitere Bloßstellung sich erübrigt hat; zweitens: hätte ich diese Fuge zum Gegenstand einer besondern Abhandlung gemacht, etwa im Vergleich mit einer Bachschen Fuge, dann hätte ich jede Einzelheit zu prüfen gehabt. Das hätte Weisse sich wohl selbst sagen können." ("From Weisse (letter): concerning Yearbook II. He has different views about several things – regrets most of all that I did not contest Reger's fugue as thoroughly as the variations. The constant fear, which marks him out, prevents this otherwise so educated person to work out the necessary explanation on his own. It was indeed so obvious: first of all, I exposed the weaknesses of Reger's counterpoint in so many variations that a further exposition was unnecessary; secondly, had I made this fugue the object of a special study, for instance in comparison with a fugue by Bach, then I would have had to check every detail in it. Weisse could have said so himself.") 2 This figure shows a voice-leading analysis of Schubert's Waltz, Op. 9 (D. 365), no. 5. 3 No paragraph-break in source. |