9. VIII. 16 Wolkenlos!
Zuhause bei Arbeit. Lie-Liechen bringt nun sämtliche Rückstände zu „Wilhelm Meister“ 1 endgiltig fertig. — *{370} Vorarbeit zum Generalbass-Abschnitt. — Zigarren zuende! weder sind welche im Gasthof, noch in irgendwelcheeinem Laden sind aufzutreiben. — An das Post-Zeitungsamt in Wien wegen der regelmäßig anlangenden Duplikate der „Frankf. Ztg.“. — *Frau Trier kommt öfter ins Stübl u. sucht Gespräche anzuknüpfen. Ohne die Grundlage irgendwelcher Bildung, wohl auch ohne sittlichen Halt, hat sie, wie ich hörte, selbst die Ehe nicht einwandfrei geführt; nun, da der Mann gefallen , u. ihr die Villa hinterlassen hat, wozu ja sicher auch ein größeres Kapital beigestellt worden sein musste, benutzt missbraucht sie nur ihre Freiheit, um immer tiefer hinabzugleiten. Ihr völliger Verfall ist nur eine Frage der Zeit; u. immer wieder aber gibt ein solches Bild Veranlassung, nicht ohne Bitterkeit zu denken, wie verkehrt die Gesellschaftsordnung dahinlebt, wenn sie durch ein Zur-Verfügung-stellen von Geldmitteln gerade an so haltlose Personen den Begriff Menschen wie Geld zuschanden bringt u. entwertet. Was ließe sich nur alles aus den Kapitalien herausschlagen, die wie sie der Wittwe zur Verfügung stehen u. die sie doch nur immer mehr in den Abgrund ziehen! — *Auch die Sprache wird von den Nationen meist nur wie ein Kleid behandelt. Da das Innerste einer Nation als Ganzes genommen noch lange nicht die Differenziertheit aufweist wie die Seele der hervorragendsten Einzelnen, so spielt die Sprache im Gesamtleben der Nationen nur erst die eine bescheidene Rolle nach Maßgabe des noch bescheidenen Seelenvorrates. Es ahnt aber die Nation im Ganzen noch lange nicht, welch unendlich hohen Wert die Sprache besitzt, weil u. sofern sie den hervorragendsten Genies die Mittel zur Verfügung stellt, die ihre subtilsten Vorstellungen u. Gefühle auszudrücken. In dieser Ahnungslosigkeit legt daher die Nation auf die Sprache, wie sie selbst diesen den Begriff faßt, leider nur erst so viel wert, als sie sie blos von anderssprachigen Nationen unterscheidet, also Wert nur im rein äußerlichen Sinne. Je äußerlicher indessen der Sinn ist bleibt, den die Nation ihrer Sprache beilegt, desto versessener wird sie {371} auf die äußerliche Unterscheidung, die die Sprache bewirkt, als würden die andern Nationen in ihrer Sprache nicht doch ebenso auch nur uUndifferenziertes u. Unwichtiges auszudrücken in der Lage sein, als stünden, an der Sprache gemessen, de nren billigen Begriff vorausgesetzt, nicht beinahe alle Nationen auf derselbe Stufe. Aber gerade nun wird es sonderbarerweise umso verworrener, als sich die Nationen auf ihren so billigen u. gar nicht unterscheidenden Begriff der Sprache versteifen u. hierin Unterscheidungsmerkmale zu finden glauben, die gar nicht vorhanden sind. Es ist damit ganz so, wie mit jenen Männern u. Frauen Kleidern, die unter durch Kleider angeblich Unterschiede begründen swollen, die gar nicht vorhanden sind, wenn das ihr Innerstes der Menschen geprüft wird. — *Rosegger: Seine größeren Erzählungen leiden an den Vorzügen der kleineren. Es drängt ihn, den Meister auch beim Entwurf größerer Erzählungen Personen u. Situationen an Ort u. Stelle zu pointieren, nach Art der kleinen, allerkleinsten Skizzen, die die Pointe nur allzubald allzu bald auf der Zunge haben. Es entsteht so nur eine Sammlung von Skizzen, noch aber kein wohlabgewogenes Ganzes. — *
© Transcription Marko Deisinger. |
August 9, 1916. Cloudless!
At home, working. Lie-Liechen now completes the entire backlog of Wilhelm Meister. 1 — *{370} Preliminary work on the section on thoroughbass . — Supply of cigars exhausted! They can be obtained neither at the hotel nor in any shops. — To the newspaper post office in Vienna, concerning the duplicate copies of Frankfurter Zeitung that regularly arrive. — *Mrs. Trier often comes into the lounge and seeks to engage in conversation. Lacking the foundations of any education, and probably without moral footing either, she has – so I hear – not led an impeccable married life herself. Now that her husband has been killed in the war and left her the villa, to which a substantial capital must surely also be attached, she is merely misusing her freedom and sliding down ever further. Her complete downfall is only a matter of time; but time and again, such an image gives one occasion to think, not without bitterness, with what perversion the social order continues to exist if, by putting money at the disposal of such unrestrained persons, it wrecks and devalues the concepts of person and money. Just what can be made of sums of money of the sort that are available to this widow, and which are driving her ever further into the abyss! — *Language, too, is usually treated by nations only like a piece of clothing. As the innermost quality of a nation, considered as a whole, comes nowhere near showing the differentiation as does the soul of the most outstanding individual, language plays only a modest role in the overall life of nations, in proportion to its yet modest spiritual provision. But the nation has no idea at all what an infinitely high value is possessed by language, insofar as it is placed in the service of the most outstanding genius to express its most subtle ideas and feelings. In this ignorance, the nation lays only so much value on language – as it itself understands this concept – as it can distinguish it merely from that of nations with other languages, thus value only in the purely superficial sense. The more superficial the sense remains, which the nation associates with its language, {371} the more intent it will be on the superficial difference that its language effects – as if the other nations were in a position to express only equally undifferentiated and unimportant things in their language, as if nearly all the nations stood on the same level, measured in terms of language as it is presupposed to be a cheap concept. But now things become strangely all the more nebulous when nations harden themselves in their cheap and utterly indiscriminate concept of language and believe that they can find signs of differentiation that nowhere exist. It is thus exactly how men and women, by the clothes they wear, wish to create differences that do not exist at all when their innermost qualities are tested. — *Rosegger: his longer tales suffer from the advantages of the shorter ones. He is determined, even when designing longer tales, to emphasize persons and situations on the spot, in the manner of short, very short sketches, the gist of which is on the tip of one's tongue all too soon. There results from this only a collection of sketches, not a well-developed whole. — *
© Translation William Drabkin. |
9. VIII. 16 Wolkenlos!
Zuhause bei Arbeit. Lie-Liechen bringt nun sämtliche Rückstände zu „Wilhelm Meister“ 1 endgiltig fertig. — *{370} Vorarbeit zum Generalbass-Abschnitt. — Zigarren zuende! weder sind welche im Gasthof, noch in irgendwelcheeinem Laden sind aufzutreiben. — An das Post-Zeitungsamt in Wien wegen der regelmäßig anlangenden Duplikate der „Frankf. Ztg.“. — *Frau Trier kommt öfter ins Stübl u. sucht Gespräche anzuknüpfen. Ohne die Grundlage irgendwelcher Bildung, wohl auch ohne sittlichen Halt, hat sie, wie ich hörte, selbst die Ehe nicht einwandfrei geführt; nun, da der Mann gefallen , u. ihr die Villa hinterlassen hat, wozu ja sicher auch ein größeres Kapital beigestellt worden sein musste, benutzt missbraucht sie nur ihre Freiheit, um immer tiefer hinabzugleiten. Ihr völliger Verfall ist nur eine Frage der Zeit; u. immer wieder aber gibt ein solches Bild Veranlassung, nicht ohne Bitterkeit zu denken, wie verkehrt die Gesellschaftsordnung dahinlebt, wenn sie durch ein Zur-Verfügung-stellen von Geldmitteln gerade an so haltlose Personen den Begriff Menschen wie Geld zuschanden bringt u. entwertet. Was ließe sich nur alles aus den Kapitalien herausschlagen, die wie sie der Wittwe zur Verfügung stehen u. die sie doch nur immer mehr in den Abgrund ziehen! — *Auch die Sprache wird von den Nationen meist nur wie ein Kleid behandelt. Da das Innerste einer Nation als Ganzes genommen noch lange nicht die Differenziertheit aufweist wie die Seele der hervorragendsten Einzelnen, so spielt die Sprache im Gesamtleben der Nationen nur erst die eine bescheidene Rolle nach Maßgabe des noch bescheidenen Seelenvorrates. Es ahnt aber die Nation im Ganzen noch lange nicht, welch unendlich hohen Wert die Sprache besitzt, weil u. sofern sie den hervorragendsten Genies die Mittel zur Verfügung stellt, die ihre subtilsten Vorstellungen u. Gefühle auszudrücken. In dieser Ahnungslosigkeit legt daher die Nation auf die Sprache, wie sie selbst diesen den Begriff faßt, leider nur erst so viel wert, als sie sie blos von anderssprachigen Nationen unterscheidet, also Wert nur im rein äußerlichen Sinne. Je äußerlicher indessen der Sinn ist bleibt, den die Nation ihrer Sprache beilegt, desto versessener wird sie {371} auf die äußerliche Unterscheidung, die die Sprache bewirkt, als würden die andern Nationen in ihrer Sprache nicht doch ebenso auch nur uUndifferenziertes u. Unwichtiges auszudrücken in der Lage sein, als stünden, an der Sprache gemessen, de nren billigen Begriff vorausgesetzt, nicht beinahe alle Nationen auf derselbe Stufe. Aber gerade nun wird es sonderbarerweise umso verworrener, als sich die Nationen auf ihren so billigen u. gar nicht unterscheidenden Begriff der Sprache versteifen u. hierin Unterscheidungsmerkmale zu finden glauben, die gar nicht vorhanden sind. Es ist damit ganz so, wie mit jenen Männern u. Frauen Kleidern, die unter durch Kleider angeblich Unterschiede begründen swollen, die gar nicht vorhanden sind, wenn das ihr Innerstes der Menschen geprüft wird. — *Rosegger: Seine größeren Erzählungen leiden an den Vorzügen der kleineren. Es drängt ihn, den Meister auch beim Entwurf größerer Erzählungen Personen u. Situationen an Ort u. Stelle zu pointieren, nach Art der kleinen, allerkleinsten Skizzen, die die Pointe nur allzubald allzu bald auf der Zunge haben. Es entsteht so nur eine Sammlung von Skizzen, noch aber kein wohlabgewogenes Ganzes. — *
© Transcription Marko Deisinger. |
August 9, 1916. Cloudless!
At home, working. Lie-Liechen now completes the entire backlog of Wilhelm Meister. 1 — *{370} Preliminary work on the section on thoroughbass . — Supply of cigars exhausted! They can be obtained neither at the hotel nor in any shops. — To the newspaper post office in Vienna, concerning the duplicate copies of Frankfurter Zeitung that regularly arrive. — *Mrs. Trier often comes into the lounge and seeks to engage in conversation. Lacking the foundations of any education, and probably without moral footing either, she has – so I hear – not led an impeccable married life herself. Now that her husband has been killed in the war and left her the villa, to which a substantial capital must surely also be attached, she is merely misusing her freedom and sliding down ever further. Her complete downfall is only a matter of time; but time and again, such an image gives one occasion to think, not without bitterness, with what perversion the social order continues to exist if, by putting money at the disposal of such unrestrained persons, it wrecks and devalues the concepts of person and money. Just what can be made of sums of money of the sort that are available to this widow, and which are driving her ever further into the abyss! — *Language, too, is usually treated by nations only like a piece of clothing. As the innermost quality of a nation, considered as a whole, comes nowhere near showing the differentiation as does the soul of the most outstanding individual, language plays only a modest role in the overall life of nations, in proportion to its yet modest spiritual provision. But the nation has no idea at all what an infinitely high value is possessed by language, insofar as it is placed in the service of the most outstanding genius to express its most subtle ideas and feelings. In this ignorance, the nation lays only so much value on language – as it itself understands this concept – as it can distinguish it merely from that of nations with other languages, thus value only in the purely superficial sense. The more superficial the sense remains, which the nation associates with its language, {371} the more intent it will be on the superficial difference that its language effects – as if the other nations were in a position to express only equally undifferentiated and unimportant things in their language, as if nearly all the nations stood on the same level, measured in terms of language as it is presupposed to be a cheap concept. But now things become strangely all the more nebulous when nations harden themselves in their cheap and utterly indiscriminate concept of language and believe that they can find signs of differentiation that nowhere exist. It is thus exactly how men and women, by the clothes they wear, wish to create differences that do not exist at all when their innermost qualities are tested. — *Rosegger: his longer tales suffer from the advantages of the shorter ones. He is determined, even when designing longer tales, to emphasize persons and situations on the spot, in the manner of short, very short sketches, the gist of which is on the tip of one's tongue all too soon. There results from this only a collection of sketches, not a well-developed whole. — *
© Translation William Drabkin. |
Footnotes1 Johann Wolfgang von Goethe, Wilhelm Meisters Lehrjahre (Wilhelm Meister's Apprenticeship), vol. 1, first published in 1795 (Berlin: Johann Friedrich Unger). |