13. VII. 15
Früh bei schönem Wetter ins Steißbachtal , mit der Absicht[,] eventuell zur Galzig-Spitze zu gehen. Schon in der ersten Viertelstunde werden wir unmutig darüber, daß wir das Wasser aus dem Aug’ u. Ohr verlieren, während die Karte, wie wir glaubten, den Bach uns als steten Begleiter versprach. Je weiter wir von diesem abbiegen mußten, desto mehr gerieten wir auch in Besorgnis, ob wir nicht über einen überflüssigen Umweg allzu viel Zeit verlieren. Schließlich landeten wir doch auf den Weg zur Ulmerhütte, ohne aber recht zu wissen, ob auch ins Steißbachtal nur dieser Weg allein führe. Erkundigungen sagten immer wieder zugunsten des Weges aus, den wir gerade giengen; sie konnten uns aber nicht beruhigen. Endlich kamen wir an eine Stelle, deren wir uns schon von früher her erinnerten u. wir begannen einzusehen, daß der Weg ins Steißbachtal offenbar identisch ist mit dem zur Ulmerhütte u. daß es keinen andern gibt, der etwa entlang des Baches selbst führ ten würde. Wir überschritten ein kleines Schneefeld, in dessen Nähe wir noch den ersten Frühlingszauber schauen durften, um auf den Arlensattel zu kommen. Als wir aber nicht mehr weit davon waren, zogen plötzlich Wolken auf u. da schien es uns opportuner, den Rückweg abzutreten, zumal Lie-Liechen vorhatte, einige Geschenke des Frühlings mitzunehmen, Crocus, Annemonen [sic], Primeln, Enzian, Dotterblumen, Knabenkraut, Glockenblumen u. verschiedene andere, unbekannte Blumen. Während wir da ßs Frühstück – bereits in der Waldzone – aßen, gingen die ersten Regentropfen nieder, so daß wir uns unseres Entschlußes nur erfreuen konnten. Der Regen war indessen rücksichtsvoll genug u. ließ uns endlich heil nachhause kommen. Oberhalb St. Anton, im sogenannten Moos, frugen wir wieder nach dem anderen Weg ins Steißbachtal u. erhielten die Auskunft, es gäbe zwar einen solchen, doch sei er viel weniger gut als der sonst begangene. Außerdem lehrte uns ein Rückblick auf den zurückgelegten Weg, daß wir der Karte Unrecht getan u. wir begriffen, daß uns lediglich eine Erinnerung aus früherer Zeit täuschende Bilder vorgegaukelt, um derenthalb wir der Karte mißtrauten u. in der Folge in die eigentümliche Berg-Nervo- {983} sität gerieten. Einige Bruchstücke der Erinnerung waren es insbesondere, die wir in falscher Weise zu einem Weg addierten, u. dies war der eigentliche Grund, weshalb wir gegen den gegenwärtig begangenen uns von Herzen auflehnten. Unter anderem anderen frugen wir einen kleinen Buben; anfangs scheu, trat er über Lie-Liechens deutliche Aufforderung nahe zu uns heran, u. da konnten wir zwei wunderbare schwarze Augen bewundern, die im Gesicht wirkten, wie große Enziane in der Wiese. — *Nachmittags überrascht uns plötzlich Sturm, dem zwei Fensterscheiben in meinem Zimmer zum Opfer fallen. Der Sturm bringt nur kurzen Regen. — Während des Abendessen melden sich vereinzelte Donner u. des nachts bemächtigt sich der Natur ein starker Aufruhr mit Donner u. starkem, dauernden Regen, so daß wir darüber nur wenig zum Schlaf kommen. — Sprüche V. 1 — — Notizen zu Nagel zuende. 2 — *
© Transcription Marko Deisinger. |
July 13, 1915.
Early, in good weather, to the Steißbachtal with the possible intention of going to the top of the Galzig. Even in the first quarter of an hour, we become uneasy about having lost the sight and sound of the water, whereas – so we believe – the map promised that the brook would be our constant companion. The further we must have turned away from it, the more we became concerned that we might be losing far too much time on an unnecessary detour. Yet in the end, we did land on the path to the Ulmerhütte, but without quite knowing whether this was the only path that led into the Steißbachtal. Enquiries always spoke in favor of the path that we had just taken; but they could not calm us. Finally we came to a place which we remembered from earlier times; and we began to realize that the path through the Steißbachtal was evidently identical to the one to the Ulmerhütte and that there was no other path, say, that would have followed the course of the brook itself. We crossed a small snow field, in whose vicinity we were still able to see the first magic of spring, in order to reach the Arlensattel. When we were not very far from it, clouds suddenly gathered; and it seemed more opportune for us to turn back, especially as Lie-Liechen was planning to take a few presents of spring with her: crocuses, anemones, primroses, gentians, buttercups, alpine orchids, bell flowers and various other unknown flowers. As we were eating our breakfast – already in the forested area – the first drops of rain began to fall, so that we could only be pleased with our decision. The rain was, however, sufficiently polite and we were in the end able to return home safe and sound. Above St. Anton, in the so-called mossy area, we enquired again about the other path into the Steißbachtal and received the information that there was indeed another, but it was not nearly as good as the one normally taken. Moreover, a retrospective view of the path we had taken taught us that we did the map an injustice; and we understood that simply a recollection from an earlier time led us to deceptive impressions, on account of which we mistrusted the map and consequently were subjected to that peculiar mountaineering nervousness. {983} A few fragments of memory, in particular, we mistakenly added to a path; and this was the actual reason why we had revolted in our hearts against the one we took this time. Among others, we asked a small boy; at first shy, he approached us thanks to Lie-Liechen's clear invitation; and we could admire two wonderful black eyes which adorned his face like great gentians in the meadow. — *In the afternoon, a sudden storm surprises us, to which two panes of glass in my room fall victim. The storm brings with it only brief rainfall. — During supper, isolated thunderclaps are heard; and in the night a powerful impulse takes hold of Nature with thunder and heavy, persistent rain, so that we are able to get only a little sleep. — Maxims and Reflections, chapter V. 1 — — Notes on Nagel finished. 2 — *
© Translation William Drabkin. |
13. VII. 15
Früh bei schönem Wetter ins Steißbachtal , mit der Absicht[,] eventuell zur Galzig-Spitze zu gehen. Schon in der ersten Viertelstunde werden wir unmutig darüber, daß wir das Wasser aus dem Aug’ u. Ohr verlieren, während die Karte, wie wir glaubten, den Bach uns als steten Begleiter versprach. Je weiter wir von diesem abbiegen mußten, desto mehr gerieten wir auch in Besorgnis, ob wir nicht über einen überflüssigen Umweg allzu viel Zeit verlieren. Schließlich landeten wir doch auf den Weg zur Ulmerhütte, ohne aber recht zu wissen, ob auch ins Steißbachtal nur dieser Weg allein führe. Erkundigungen sagten immer wieder zugunsten des Weges aus, den wir gerade giengen; sie konnten uns aber nicht beruhigen. Endlich kamen wir an eine Stelle, deren wir uns schon von früher her erinnerten u. wir begannen einzusehen, daß der Weg ins Steißbachtal offenbar identisch ist mit dem zur Ulmerhütte u. daß es keinen andern gibt, der etwa entlang des Baches selbst führ ten würde. Wir überschritten ein kleines Schneefeld, in dessen Nähe wir noch den ersten Frühlingszauber schauen durften, um auf den Arlensattel zu kommen. Als wir aber nicht mehr weit davon waren, zogen plötzlich Wolken auf u. da schien es uns opportuner, den Rückweg abzutreten, zumal Lie-Liechen vorhatte, einige Geschenke des Frühlings mitzunehmen, Crocus, Annemonen [sic], Primeln, Enzian, Dotterblumen, Knabenkraut, Glockenblumen u. verschiedene andere, unbekannte Blumen. Während wir da ßs Frühstück – bereits in der Waldzone – aßen, gingen die ersten Regentropfen nieder, so daß wir uns unseres Entschlußes nur erfreuen konnten. Der Regen war indessen rücksichtsvoll genug u. ließ uns endlich heil nachhause kommen. Oberhalb St. Anton, im sogenannten Moos, frugen wir wieder nach dem anderen Weg ins Steißbachtal u. erhielten die Auskunft, es gäbe zwar einen solchen, doch sei er viel weniger gut als der sonst begangene. Außerdem lehrte uns ein Rückblick auf den zurückgelegten Weg, daß wir der Karte Unrecht getan u. wir begriffen, daß uns lediglich eine Erinnerung aus früherer Zeit täuschende Bilder vorgegaukelt, um derenthalb wir der Karte mißtrauten u. in der Folge in die eigentümliche Berg-Nervo- {983} sität gerieten. Einige Bruchstücke der Erinnerung waren es insbesondere, die wir in falscher Weise zu einem Weg addierten, u. dies war der eigentliche Grund, weshalb wir gegen den gegenwärtig begangenen uns von Herzen auflehnten. Unter anderem anderen frugen wir einen kleinen Buben; anfangs scheu, trat er über Lie-Liechens deutliche Aufforderung nahe zu uns heran, u. da konnten wir zwei wunderbare schwarze Augen bewundern, die im Gesicht wirkten, wie große Enziane in der Wiese. — *Nachmittags überrascht uns plötzlich Sturm, dem zwei Fensterscheiben in meinem Zimmer zum Opfer fallen. Der Sturm bringt nur kurzen Regen. — Während des Abendessen melden sich vereinzelte Donner u. des nachts bemächtigt sich der Natur ein starker Aufruhr mit Donner u. starkem, dauernden Regen, so daß wir darüber nur wenig zum Schlaf kommen. — Sprüche V. 1 — — Notizen zu Nagel zuende. 2 — *
© Transcription Marko Deisinger. |
July 13, 1915.
Early, in good weather, to the Steißbachtal with the possible intention of going to the top of the Galzig. Even in the first quarter of an hour, we become uneasy about having lost the sight and sound of the water, whereas – so we believe – the map promised that the brook would be our constant companion. The further we must have turned away from it, the more we became concerned that we might be losing far too much time on an unnecessary detour. Yet in the end, we did land on the path to the Ulmerhütte, but without quite knowing whether this was the only path that led into the Steißbachtal. Enquiries always spoke in favor of the path that we had just taken; but they could not calm us. Finally we came to a place which we remembered from earlier times; and we began to realize that the path through the Steißbachtal was evidently identical to the one to the Ulmerhütte and that there was no other path, say, that would have followed the course of the brook itself. We crossed a small snow field, in whose vicinity we were still able to see the first magic of spring, in order to reach the Arlensattel. When we were not very far from it, clouds suddenly gathered; and it seemed more opportune for us to turn back, especially as Lie-Liechen was planning to take a few presents of spring with her: crocuses, anemones, primroses, gentians, buttercups, alpine orchids, bell flowers and various other unknown flowers. As we were eating our breakfast – already in the forested area – the first drops of rain began to fall, so that we could only be pleased with our decision. The rain was, however, sufficiently polite and we were in the end able to return home safe and sound. Above St. Anton, in the so-called mossy area, we enquired again about the other path into the Steißbachtal and received the information that there was indeed another, but it was not nearly as good as the one normally taken. Moreover, a retrospective view of the path we had taken taught us that we did the map an injustice; and we understood that simply a recollection from an earlier time led us to deceptive impressions, on account of which we mistrusted the map and consequently were subjected to that peculiar mountaineering nervousness. {983} A few fragments of memory, in particular, we mistakenly added to a path; and this was the actual reason why we had revolted in our hearts against the one we took this time. Among others, we asked a small boy; at first shy, he approached us thanks to Lie-Liechen's clear invitation; and we could admire two wonderful black eyes which adorned his face like great gentians in the meadow. — *In the afternoon, a sudden storm surprises us, to which two panes of glass in my room fall victim. The storm brings with it only brief rainfall. — During supper, isolated thunderclaps are heard; and in the night a powerful impulse takes hold of Nature with thunder and heavy, persistent rain, so that we are able to get only a little sleep. — Maxims and Reflections, chapter V. 1 — — Notes on Nagel finished. 2 — *
© Translation William Drabkin. |
Footnotes1 Johann Wolfgang von Goethe, Sprüche in Prosa, ed. Gustav von Loeper (= Goethe's Werke 19; Berlin: Gustav Hempel, 1870), pp. 152–158 (Kunst, Aphorismen, 5. Abteilung). Schenker had read chapters 3 and 4 the previous day (see diary entry for July 12, 1915). 2 For the section on the secondary literature in Erläuterungsausgabe of Beethoven's Op. 111 (Vienna: Universal Edition, 1916). |