26. X. 1914
Früh zu Mama, wo wir alle Möglichkeiten ganz offen erörtern. Die Schwester erklärt unumwunden, daß sie die Mutter zu sich nicht nehmen könne; ebenso unumwunden erklärt die Mama, daß sie nichts gewinne, wenn sie in Sereth bei fremden Leuten, wenn auch in der Nähe der Tochter wohne. Am meisten geneigt war sie dem Plan zu Lie-Liechen zu gehen, doch nur weil sie sich wie immer keinerlei Gedanken daraus machte, was das in so beschränkten Verhältnissen, als sie eintreten müßten, zu bedeuten hätte. Im Dilemma, mir oder den anderen Brüdern oder der Schwester ein Unrecht zuzufügen, hat sie auch niemals früher sich ein Gewissen daraus gemacht, gerade mir das Unrecht zuzufügen, blos weil sie die Anstrengung scheute, bei den Brüdern das durchzusetzen, was sie bei mir eben zwar ohne eigene Anstrengung, doch nicht ohne meine Opfer haben konnte. – Auch zeigt sie sich geneigt zu Frl. Wesel zu gehen u. doch wieder nur weil sie nicht bedenkt, ob ihr ein Milieuwechsel angenehm wäre. Sie ist bereit es eben auf den Versuch ankommen zu lassen, weil sie die Schwierigkeiten des Versuches gar nicht erst erwägt u. es ihr vorläufig nur darum zu tun ist, der Fr. Kl. zu entrinnen. Doch fordert es die Gerechtigkeit, daß ihr die Verzweiflung der Situation zugebilligt wird. Im Besitz von 4 Kindern {755} findet sie in ihren ältesten Tagen keinen Platz bei einem der Kinder u. da die Juden sonst ihre Eltern bei sich zu haben pflegen u. daher keinerlei Pensionen gründen, so ergibt sich die Schwierigkeit der Plazierung [sic] der Mutter bei fremden Leuten von selbst. Dazu kommt als besonders erschwerend die Unbildung der Mutter, die zwar den Egoismus u. den Wunsch nach Gutem, Besserem u. Bestem nicht aufgibt, leider aber zugleich unmöglich macht zu beurteilen, was sie davon bestenfalls erreichen konnte. So ist mir z. B. [illeg]bange, ob sie sich bei Frl. Wesel – die Aufnahme vorausgesetzt – überhaupt nur wohlbefinden würde. Meiner Erfahrung nach würde sie sehr bald Sehnsucht nach ihrem gewohnten Milieu empfinden u. die bessere Pflege nur als sekundäres Moment hinstellen. Der Kern der schwierigen Situation liegt aber vor allem darin, daß ihre bisherige Quartiergeberin von dem unseligen Wahn geplagt wird, sie habe für ihre Leistung nach gangbaren Usançen das Recht auf eine mindestens dreifache Entlohnung, ein Wahn, zu dem sie außer durch falsche Vorstellung , durch ihre Notlage gedrängt wird, die in ihr den Wunsch auslöst, aus der Mutter so viel Geld herauszuschlagen, als sie für ihre Familie braucht. — Erst nachmittags lauft von Frl. Wesel die schon gestern erwartete Antwort ein, daß sie die Mutter vorerst zu sehen wünscht, bevor sie einen Entschluß fasst. *Karte von Fr. I. M., die sich für nachmittag [sic] zwischen 5–6h bei Lie-Liechen ansagt. *Abschied von Sophie u. den Kindern, die morgen nach Kaschau abreisen. *Gegen 10h vormittags an die Fabrik Brünauer’s telefoniert u. dort die Nachricht erhalten, daß er abgereist sei. Mittag Brief an ihn nach Tutzing mit Einforderung einfachster Artigkeit. — Karten: an Zuckerkandl mit Anfrage wegen des Befindens u. an die Tante mit Dank für den Weg für Mama. *Eintragungen von einzelnen Notizen in Band I. *
© Transcription Marko Deisinger. |
October 26, 1914.
Early to Mama's, where we debate all possibilities quite openly. My sister explains forthrightly that she is unable to accommodate our mother herself, who would not gain anything by living among strangers in Sereth, even if she were living near her daughter. She [our mother] was most favorably inclined towards the plan to go to Lie-Liechen, yet only because she was not in the least concerned about what it meant to be in such straitened circumstances as she would have to encounter. Caught in the dilemma of doing either me or my brothers or my sister a wrong, she has also never had a bad conscience of doing a wrong to me in particular, merely because she spared herself the effort of getting from my brothers what she could get from me without effort on her part, albeit not without my sacrifice. – She also seems inclined to go to Miss Wesel, and yet only because she does not consider whether a change of milieu would suit her. She is prepared to let it come to a test, because she does not even consider the difficulties of the test, and the only thing for her to do at the present moment is to escape Mrs. Klumak. Yet justice demands that the desperation of the situation be explained to her. Being in possession of four children, {755} she finds no place with one of her children in her last years; and since Jews normally have their parents with them and therefore do not have to establish any housing for the elderly, the difficulty of finding a placement for my mother with strangers arises of its own accord. In addition, the lack of education is a particularly aggravating factor for my mother, who certainly is not giving up her egoism or her desire for something good, better, and best; but unfortunately, she makes it impossible to judge what she can achieve in the best case. Thus I am worried about whether she will even be comfortable at Miss Wesel's, even assuming that she will be accommodated there. According to my experience, she would soon be yearning for her customary milieu and will make better care a matter only of secondary importance. The crux of the difficult situation lies above all, however, in the fact that her previous landlady was plagued by the unfortunate delusion that, for her accomplishments, she had the right to at least a threefold remuneration in accordance with current practice: a delusion to which she is compelled not only by false assumptions but also by her situation, which unleashes in her the desire to extract from my mother as much money as she needs for her family. — Miss Wesel's reply, expected already yesterday, does not arrive until the afternoon; she would like to see my mother in advance before making a decision. *Postcard from I. M., who says she will come to Lie-Liechen's between 5 and 6 o'clock. *Parting from Sophie and the children, who leave for Kaschau tomorrow. *Towards 10 o'clock in the morning, I telephone Brünauer's factory, which I get the news that he has gone away. At midday, a letter to him sent to Tutzing, with the request of the simplest courtesy. — Postcards to Zuckerkandl with a query about his health, and to my aunt to thank her for doing an errand for Mama. *Entries of individual comments in the Theory of Harmony . *
© Translation William Drabkin. |
26. X. 1914
Früh zu Mama, wo wir alle Möglichkeiten ganz offen erörtern. Die Schwester erklärt unumwunden, daß sie die Mutter zu sich nicht nehmen könne; ebenso unumwunden erklärt die Mama, daß sie nichts gewinne, wenn sie in Sereth bei fremden Leuten, wenn auch in der Nähe der Tochter wohne. Am meisten geneigt war sie dem Plan zu Lie-Liechen zu gehen, doch nur weil sie sich wie immer keinerlei Gedanken daraus machte, was das in so beschränkten Verhältnissen, als sie eintreten müßten, zu bedeuten hätte. Im Dilemma, mir oder den anderen Brüdern oder der Schwester ein Unrecht zuzufügen, hat sie auch niemals früher sich ein Gewissen daraus gemacht, gerade mir das Unrecht zuzufügen, blos weil sie die Anstrengung scheute, bei den Brüdern das durchzusetzen, was sie bei mir eben zwar ohne eigene Anstrengung, doch nicht ohne meine Opfer haben konnte. – Auch zeigt sie sich geneigt zu Frl. Wesel zu gehen u. doch wieder nur weil sie nicht bedenkt, ob ihr ein Milieuwechsel angenehm wäre. Sie ist bereit es eben auf den Versuch ankommen zu lassen, weil sie die Schwierigkeiten des Versuches gar nicht erst erwägt u. es ihr vorläufig nur darum zu tun ist, der Fr. Kl. zu entrinnen. Doch fordert es die Gerechtigkeit, daß ihr die Verzweiflung der Situation zugebilligt wird. Im Besitz von 4 Kindern {755} findet sie in ihren ältesten Tagen keinen Platz bei einem der Kinder u. da die Juden sonst ihre Eltern bei sich zu haben pflegen u. daher keinerlei Pensionen gründen, so ergibt sich die Schwierigkeit der Plazierung [sic] der Mutter bei fremden Leuten von selbst. Dazu kommt als besonders erschwerend die Unbildung der Mutter, die zwar den Egoismus u. den Wunsch nach Gutem, Besserem u. Bestem nicht aufgibt, leider aber zugleich unmöglich macht zu beurteilen, was sie davon bestenfalls erreichen konnte. So ist mir z. B. [illeg]bange, ob sie sich bei Frl. Wesel – die Aufnahme vorausgesetzt – überhaupt nur wohlbefinden würde. Meiner Erfahrung nach würde sie sehr bald Sehnsucht nach ihrem gewohnten Milieu empfinden u. die bessere Pflege nur als sekundäres Moment hinstellen. Der Kern der schwierigen Situation liegt aber vor allem darin, daß ihre bisherige Quartiergeberin von dem unseligen Wahn geplagt wird, sie habe für ihre Leistung nach gangbaren Usançen das Recht auf eine mindestens dreifache Entlohnung, ein Wahn, zu dem sie außer durch falsche Vorstellung , durch ihre Notlage gedrängt wird, die in ihr den Wunsch auslöst, aus der Mutter so viel Geld herauszuschlagen, als sie für ihre Familie braucht. — Erst nachmittags lauft von Frl. Wesel die schon gestern erwartete Antwort ein, daß sie die Mutter vorerst zu sehen wünscht, bevor sie einen Entschluß fasst. *Karte von Fr. I. M., die sich für nachmittag [sic] zwischen 5–6h bei Lie-Liechen ansagt. *Abschied von Sophie u. den Kindern, die morgen nach Kaschau abreisen. *Gegen 10h vormittags an die Fabrik Brünauer’s telefoniert u. dort die Nachricht erhalten, daß er abgereist sei. Mittag Brief an ihn nach Tutzing mit Einforderung einfachster Artigkeit. — Karten: an Zuckerkandl mit Anfrage wegen des Befindens u. an die Tante mit Dank für den Weg für Mama. *Eintragungen von einzelnen Notizen in Band I. *
© Transcription Marko Deisinger. |
October 26, 1914.
Early to Mama's, where we debate all possibilities quite openly. My sister explains forthrightly that she is unable to accommodate our mother herself, who would not gain anything by living among strangers in Sereth, even if she were living near her daughter. She [our mother] was most favorably inclined towards the plan to go to Lie-Liechen, yet only because she was not in the least concerned about what it meant to be in such straitened circumstances as she would have to encounter. Caught in the dilemma of doing either me or my brothers or my sister a wrong, she has also never had a bad conscience of doing a wrong to me in particular, merely because she spared herself the effort of getting from my brothers what she could get from me without effort on her part, albeit not without my sacrifice. – She also seems inclined to go to Miss Wesel, and yet only because she does not consider whether a change of milieu would suit her. She is prepared to let it come to a test, because she does not even consider the difficulties of the test, and the only thing for her to do at the present moment is to escape Mrs. Klumak. Yet justice demands that the desperation of the situation be explained to her. Being in possession of four children, {755} she finds no place with one of her children in her last years; and since Jews normally have their parents with them and therefore do not have to establish any housing for the elderly, the difficulty of finding a placement for my mother with strangers arises of its own accord. In addition, the lack of education is a particularly aggravating factor for my mother, who certainly is not giving up her egoism or her desire for something good, better, and best; but unfortunately, she makes it impossible to judge what she can achieve in the best case. Thus I am worried about whether she will even be comfortable at Miss Wesel's, even assuming that she will be accommodated there. According to my experience, she would soon be yearning for her customary milieu and will make better care a matter only of secondary importance. The crux of the difficult situation lies above all, however, in the fact that her previous landlady was plagued by the unfortunate delusion that, for her accomplishments, she had the right to at least a threefold remuneration in accordance with current practice: a delusion to which she is compelled not only by false assumptions but also by her situation, which unleashes in her the desire to extract from my mother as much money as she needs for her family. — Miss Wesel's reply, expected already yesterday, does not arrive until the afternoon; she would like to see my mother in advance before making a decision. *Postcard from I. M., who says she will come to Lie-Liechen's between 5 and 6 o'clock. *Parting from Sophie and the children, who leave for Kaschau tomorrow. *Towards 10 o'clock in the morning, I telephone Brünauer's factory, which I get the news that he has gone away. At midday, a letter to him sent to Tutzing, with the request of the simplest courtesy. — Postcards to Zuckerkandl with a query about his health, and to my aunt to thank her for doing an errand for Mama. *Entries of individual comments in the Theory of Harmony . *
© Translation William Drabkin. |