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Ser. A, {179}

22. Okt.

Was nützt den Menschen all' ihre Fruchtbarkeit, wenn diese am Ende doch nur Unfruchtbares hervorbringt?

*

Vom Lesen. Es ist unbillig vom Leser eine Hingabe zu fordern, die ihn außer Stande setzen würde, das Buch auch mit Urteil zu lesen. Urteilslosigkeit u. Naivität dürfen nicht für dasselbe gehalten werden, da Naivität sehr wohl auch das Urteil in sich einschließen kann. Um dieses zu verstehen ist es nötig, das Wesen des Urteils zu erforschen.

Der Stoff als Teil der unendlichen Welt steht mit dieser hoch über dem Menschen, der ihn aus der Unendlichkeit herausgreifen, u. in die Darstellung bannen will. Wie hoch steht nicht auch z.B. über einem Göthe jenes Menschheitsproblem, das im Faust zur Lösung gelangen sollte. So wird denn schon der Autor, selbst der genialste, am Stoff gemessen, indem man auf Grund der Judizien, die der Stoff selbst entgegen bringt, darüber urteilt u. entscheidet, ob der Autor dem Stoff gerecht wurde, oder nicht. Eben dieses Geschäft bleibt auch dem Leser nicht erspart; er ist's ja, der den Stoff mindestens empfängt, wenn er ihn nicht selbst erzeugt u. auch ihm steht die Beziehung zum Stoff doch nicht minder offen, wie dem Autor. Und so kommt es, daß eigentlich beide, Dich- {180} ter, wie Leser, sich dem Stoff hingeben, jeder freilich in seiner Art. Nicht also Hingabe an den Dichter fordere man vom Leser, sondern nur Hingabe an den Stoff. Nur im Falle der letzteren ist das höchste Ideal zu erreichen möglich, daß der Leser aus seiner eigenen Hingabe an den Stoff Naivität schöpft, um den Stoff in sich voll aufzunehmen u. zugleich soviel Urteil, um am Stoff gleichsam mit dem Autor mitschöpferisch, auch die Verfehlungen des Autors wider den Stoff, herausfinden u. verurteilen zu können.

*

Währender Zeit ‒ während der Zeit . . lateinische Konstruktion.

*

22. Okt. 1911.
Frankfurter Zeitung
Prof. Richard Meyer
„Antworten sind immer provisorisch ‒ Fragen können ewig sein.

*

Alle Erfinder sind arme Leute gewesen ‒ alle reichen Leute waren Erben.

*

Es gibt ja so viele Arten von Unbildung, als es Arten von Bildung gibt. Wir wollen nicht leugnen, daß es auch eine spezifisch humanistische Unbildung gibt.

*

Exakt nennen wir diejenige Forschung, die sich auf die methodisch zulässigen Fehler beschränkt.

*

Auch der größte u. ergiebigste Landbesitz erregt nicht soviel Neid, wie ein verhältnismäßig geringeres Kapitalvermögen. Auch die umfänglichste Gelehrsamkeit können die unvermögenden noch verzeihen; aber Gedankenreichtum beleidigt jeden Proletarier.“

*

© Transcription Ian Bent, 2019

Ser. A, {179}

October 22

What value to mankind is all its fruitfulness, when in the end the latter brings forth nothing by unfruitfulness?

*

Concerning reading. It is unfair to demand of the reader a level of dedication that leaves him incapable of reading the book also with judgement. Lack of judgement and naivety ought not to be considered the same, since naivety can perfectly well include also judgement. In order to understand this it is necessary to examine the very nature of judgement.

The material, as part of the infinite world, stands high within this world above the head of man, who strives to identify it from within that infinitude and capture it by means of representation. How far above even a Goethe, for example, hangs that human problem that was eventually to attain its solution in Faust? Thus the author, even the greatest of them, will be measured against the material, inasmuch as one will judge ‒ on the basis of indicators arising from the material itself ‒ and decide whether or not the author has done justice to the material. Nor is the reader spared this same business: it is indeed he who at least receives the material, even if he has not created it himself, and his relationship to the material is at least as apparent as the author's. And so it happens that in fact both ‒ poet {180} and reader alike ‒ dedicate themselves to the material, each of course in his own way. It is therefore not dedication to the poet that is demanded of the reader but rather simply dedication to the material. Only in the case of the latter is the highest ideal attainable: that the reader, by dedicating himself to the material, creates a direct relationship in order fully to absorb the material and at the same time acquire sufficient judgement to, so to speak, become creative alongside the author and capable of seeking out even the author's failings vis-à-vis the material and condemning them.

*

Enduring time ‒ during the time . . Latin construction.

*

October 22, 1911
Frankfurter Zeitung
Prof. Richard Meyer
"Answers are always provisional ‒ questions can be eternal.

*

All inventors have been reduced to poverty ‒ all rich people were inheritors.

*

There are in truth as many types of uneducatedness as there are types of educatedness. Let us not deny that there exists also a specifically humanistic uneducatedness.

*

We call 'exact' that kind of research that limits itself to methodically admissable errors.

*

Even the largest and most lucrative piece of real estate does not arouse as much envy as a relatively small capital wealth. Those without any financial means can still excuse even the most all-encompassing erudition, but wealth of ideas offends every member of the proletariat."

*

© Translation Ian Bent, 2019

Ser. A, {179}

22. Okt.

Was nützt den Menschen all' ihre Fruchtbarkeit, wenn diese am Ende doch nur Unfruchtbares hervorbringt?

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Vom Lesen. Es ist unbillig vom Leser eine Hingabe zu fordern, die ihn außer Stande setzen würde, das Buch auch mit Urteil zu lesen. Urteilslosigkeit u. Naivität dürfen nicht für dasselbe gehalten werden, da Naivität sehr wohl auch das Urteil in sich einschließen kann. Um dieses zu verstehen ist es nötig, das Wesen des Urteils zu erforschen.

Der Stoff als Teil der unendlichen Welt steht mit dieser hoch über dem Menschen, der ihn aus der Unendlichkeit herausgreifen, u. in die Darstellung bannen will. Wie hoch steht nicht auch z.B. über einem Göthe jenes Menschheitsproblem, das im Faust zur Lösung gelangen sollte. So wird denn schon der Autor, selbst der genialste, am Stoff gemessen, indem man auf Grund der Judizien, die der Stoff selbst entgegen bringt, darüber urteilt u. entscheidet, ob der Autor dem Stoff gerecht wurde, oder nicht. Eben dieses Geschäft bleibt auch dem Leser nicht erspart; er ist's ja, der den Stoff mindestens empfängt, wenn er ihn nicht selbst erzeugt u. auch ihm steht die Beziehung zum Stoff doch nicht minder offen, wie dem Autor. Und so kommt es, daß eigentlich beide, Dich- {180} ter, wie Leser, sich dem Stoff hingeben, jeder freilich in seiner Art. Nicht also Hingabe an den Dichter fordere man vom Leser, sondern nur Hingabe an den Stoff. Nur im Falle der letzteren ist das höchste Ideal zu erreichen möglich, daß der Leser aus seiner eigenen Hingabe an den Stoff Naivität schöpft, um den Stoff in sich voll aufzunehmen u. zugleich soviel Urteil, um am Stoff gleichsam mit dem Autor mitschöpferisch, auch die Verfehlungen des Autors wider den Stoff, herausfinden u. verurteilen zu können.

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Währender Zeit ‒ während der Zeit . . lateinische Konstruktion.

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22. Okt. 1911.
Frankfurter Zeitung
Prof. Richard Meyer
„Antworten sind immer provisorisch ‒ Fragen können ewig sein.

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Alle Erfinder sind arme Leute gewesen ‒ alle reichen Leute waren Erben.

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Es gibt ja so viele Arten von Unbildung, als es Arten von Bildung gibt. Wir wollen nicht leugnen, daß es auch eine spezifisch humanistische Unbildung gibt.

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Exakt nennen wir diejenige Forschung, die sich auf die methodisch zulässigen Fehler beschränkt.

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Auch der größte u. ergiebigste Landbesitz erregt nicht soviel Neid, wie ein verhältnismäßig geringeres Kapitalvermögen. Auch die umfänglichste Gelehrsamkeit können die unvermögenden noch verzeihen; aber Gedankenreichtum beleidigt jeden Proletarier.“

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© Transcription Ian Bent, 2019

Ser. A, {179}

October 22

What value to mankind is all its fruitfulness, when in the end the latter brings forth nothing by unfruitfulness?

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Concerning reading. It is unfair to demand of the reader a level of dedication that leaves him incapable of reading the book also with judgement. Lack of judgement and naivety ought not to be considered the same, since naivety can perfectly well include also judgement. In order to understand this it is necessary to examine the very nature of judgement.

The material, as part of the infinite world, stands high within this world above the head of man, who strives to identify it from within that infinitude and capture it by means of representation. How far above even a Goethe, for example, hangs that human problem that was eventually to attain its solution in Faust? Thus the author, even the greatest of them, will be measured against the material, inasmuch as one will judge ‒ on the basis of indicators arising from the material itself ‒ and decide whether or not the author has done justice to the material. Nor is the reader spared this same business: it is indeed he who at least receives the material, even if he has not created it himself, and his relationship to the material is at least as apparent as the author's. And so it happens that in fact both ‒ poet {180} and reader alike ‒ dedicate themselves to the material, each of course in his own way. It is therefore not dedication to the poet that is demanded of the reader but rather simply dedication to the material. Only in the case of the latter is the highest ideal attainable: that the reader, by dedicating himself to the material, creates a direct relationship in order fully to absorb the material and at the same time acquire sufficient judgement to, so to speak, become creative alongside the author and capable of seeking out even the author's failings vis-à-vis the material and condemning them.

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Enduring time ‒ during the time . . Latin construction.

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October 22, 1911
Frankfurter Zeitung
Prof. Richard Meyer
"Answers are always provisional ‒ questions can be eternal.

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All inventors have been reduced to poverty ‒ all rich people were inheritors.

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There are in truth as many types of uneducatedness as there are types of educatedness. Let us not deny that there exists also a specifically humanistic uneducatedness.

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We call 'exact' that kind of research that limits itself to methodically admissable errors.

*

Even the largest and most lucrative piece of real estate does not arouse as much envy as a relatively small capital wealth. Those without any financial means can still excuse even the most all-encompassing erudition, but wealth of ideas offends every member of the proletariat."

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© Translation Ian Bent, 2019