Pallanza (Novara)
Villa Giuseppina
1. Dezember 1925


Lieber und verehrter Meister! 1

Gestern traf Ihr Bild ein! 2 Ich hatte es, der italienischen Zoll- und Post-Verhältnisse wegen, schon mit einigen Bangen erwartet. Aber gottseidank war es unversehrt und wird nun den schönsten Schmuck meines Zimmers bilden. Wir danken Ihnen beide von Herzen für die Gabe! Das Blatt ist eine bedeutende künstlerische Leistung, ohne Zweifel. Trotzdem habe ich zunächst einen gewissen inneren Widerspruch und Widerstand in mir überwinden müssen, um mich ganz damit zu befreunden. Es scheint mir, der Künstler habe hier Ihre Person und Ihr Wesen auf eine Formal gebracht, die heute, mitten in Ihrem Wirken und Schaffen, noch verfrüht ist. Ich lese darin eine Legende: „Es war einst ein Mann, der, gleich dem Prediger in der Wüste, der Menschheit eine Gottesbotschaft verkündete. Sie aber hörten ihn nicht. Und er lebte auf einem hohen Berge, in der letzten Einsamkeit, neben dem ewigen Eise und sah in tiefer Wehmut alles – – unter sich.“ 3 .... Man muss {2} Sie sehr tief kennen und verstehen, um den Sinn des Bildes und seine Wahrheit ahnen oder begreifen zu können. Ich hätte es zunächst weniger sÿmbolisch, sondern lebendiger, – um Gotteswillen nicht „gefälliger,“ – aber expansiver, blutvoller gewünscht. So wie es ist, spricht es nur zu Wenigen. Und ich lebe nun einmal in dem Wunsch, Ihr Wort und damit auch jedes Zeichen, jedes Bildnis Ihrer Person möge zu Allen sprechen! – Jedoch, mir ist dies Bild teuer als ein neuer Beweis von Ihnen! Darum nochmals meinen allerherzlichsten Dank.

Für Schusters „Musik“ habe ich in letzter Zeit mehreres geschrieben, um einen Vorschuss des Verlages abzuarbeiten, 4 der eine Haÿdn-Biographie und den Belcanto erwartet, deren Manuskripte aber immer noch längst nicht abgeschlossen sind. Die kleine Chopin-Arbeit 5 ist eine Gelegenheitsarbeit, die ich dem Halbreiter Verlag 1921 auf Bestellung für eine Sammlung schrieb. Was Schuster von der „Musik“ anbetrifft, so ist er einer jener Kompromissler der es mit niemandem verderben möchte. Man nennt diese Leute, glaube ich, „objektiv.“ Seine Zeitschrift ist nicht stumpfsinniger als die anderen Musikzeitungen sind. {3} Er kriecht vor Bekker, Weißmann und Konsorten und komponiert Opern, worin er dem „Fortschritt“ huldigt, wie er mir einmal schrieb. Vrieslander hat bei mir eine dieser Opern gesehen und beinahe Krämpfe bekommen. Der lineare Kurth einen Hÿmnus auf diese Oper geschrieben, die er ein Meisterwerk nennt, von der eine neue Epoche der Operngeschichte beginnt usw., d.h. Kurth hat sein eigenes Todesurteil geschrieben.

Haben Sie übrigens bemerkt, dass die atonalen Apostel von Schönberg und seinen Nachfolgern abzurücken beginnen. O, wir werden noch einmal „modern?“.

Stefan und Hertzka haben 100 Mark Strafe für den unbefugten Nachdruck des „Offenen Briefes an Schönberg“ im „Anbruch“ zahlen müssen. 6 Das wird ihnen weh getan haben.

Uns geht es gut hier. Wir leben absolut einsam, ohne einen Menschen zu sehen. Das Kind ist gesund und fröhlich. Von den Händeln und Schachereien der Welt hören wir nur durch die Zeitungen die ich leider lesen muss.

Nochmals innigen Dank für Ihre herrliche Gabe und die herzlichsten Grüsse an Sie und Ihre verehrte Gattin


von uns dreien
stets Ihr treuergebener
[signed:] Walter Dahms
{4} [in upper part of sheet, in Schenker's(?) hand:]
Herrn Walter Dahms Monte Rosso ‒
[ photograph of Walter and Margarete Dahms]

thumb

© Transcription John Koslovsky, 2012


Pallanza (Novara)
Villa Giuseppina
December 1, 1925


Dear and revered Master, 1

Yesterday your portrait arrived! 2 Because of the relationship between the Italian Customs Office and Post Office I had been awaiting its arrival with some fear. But thank goodness it was undamaged, and it will now make the most beautiful decoration to my room. We both thank you from the bottom of our hearts for the gift! The mezzotint is a significant artistic accomplishment, without a doubt. However I have to overcome a certain inner contradiction and resistance in me in order to grow accustomed to it. It seems to me that the artist rendered your character and your nature in a formal way, which today, while still in the midst of your work and creation, is still too early. I read into it a legend: "There was once a man who, like the priest in the desert, proclaimed to mankind a divine message. But they did not hear him. And he lived on a high mountain, in final solitude next to the eternal ice, and he observed everything down below with a deep melancholy." 3 .... One has to {2} know and understand you very deeply in order to be able to sense or comprehend the meaning of the portrait and its truth. I would have preferred something less symbolic and more lively, – God forbid not more "pleasing," – but more expansive, more warm-blooded. As it is, it speaks to only a precious few. And I live now with the hope that your words and thereby also every symbol, every portrait of your character can speak to everyone! – Nonetheless the portrait is dear to me as a new indication of you! For that once again my most heartfelt gratitude.

For Schuster's Die Musik I have recently written more in order to work off an advance payment of the publisher. 4 It is expecting a Haydn biography and the book on bel canto, for which the manuscripts are for a long time now still not complete. The small work on Chopin 5 is just an odd job that I wrote for Halbreiter Verlag in 1921 on an order for a collection. As far as Schuster from Die Musik is concerned, he is such a compromiser, who would like to try to please everybody. One calls these people, I believe, "objective." His journal is not as mindless as other music journals are. {3} He grovels before Bekker, Weißmann and Co. and composes operas, in which he embraces "progress," as he once wrote to me. Vrieslander showed me one of these operas and nearly had cramps. The linear Kurth wrote a hymn on this opera, which he called a masterpiece and proclaimed that a new epoch of opera history would begin, etc.; i.e., Kurth wrote his own death sentence.

Have you noticed, by the way, that the atonal apostles are beginning to distance themselves from Schoenberg and his successors. Oh, we are becoming "modern" once again?

Stefan and Hertzka had to pay a fine of 100 Marks for the unauthorized reprint of the "Open Letter to Schoenberg" in the Anbruch . 6 That will have hurt them some.

Things are well for us here. We are living absolutely alone, there is not a single person in sight. The kid is healthy and happy. We hear about the markets and the hagglers in the world only through the newspapers that unfortunately I must read.

Once again my deepest thanks for your wonderful gift, and warmest greetings to you and your dear wife


from all three of us.
your ever-true devotee,
[signed:] Walter Dahms
{4} [in upper part of sheet, in Schenker's(?) hand:]
Mr. Walter Dahms, Monte Rosso ‒
[photograph of Walter and Margarete Dahms]

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© Translation John Koslovsky, 2012


Pallanza (Novara)
Villa Giuseppina
1. Dezember 1925


Lieber und verehrter Meister! 1

Gestern traf Ihr Bild ein! 2 Ich hatte es, der italienischen Zoll- und Post-Verhältnisse wegen, schon mit einigen Bangen erwartet. Aber gottseidank war es unversehrt und wird nun den schönsten Schmuck meines Zimmers bilden. Wir danken Ihnen beide von Herzen für die Gabe! Das Blatt ist eine bedeutende künstlerische Leistung, ohne Zweifel. Trotzdem habe ich zunächst einen gewissen inneren Widerspruch und Widerstand in mir überwinden müssen, um mich ganz damit zu befreunden. Es scheint mir, der Künstler habe hier Ihre Person und Ihr Wesen auf eine Formal gebracht, die heute, mitten in Ihrem Wirken und Schaffen, noch verfrüht ist. Ich lese darin eine Legende: „Es war einst ein Mann, der, gleich dem Prediger in der Wüste, der Menschheit eine Gottesbotschaft verkündete. Sie aber hörten ihn nicht. Und er lebte auf einem hohen Berge, in der letzten Einsamkeit, neben dem ewigen Eise und sah in tiefer Wehmut alles – – unter sich.“ 3 .... Man muss {2} Sie sehr tief kennen und verstehen, um den Sinn des Bildes und seine Wahrheit ahnen oder begreifen zu können. Ich hätte es zunächst weniger sÿmbolisch, sondern lebendiger, – um Gotteswillen nicht „gefälliger,“ – aber expansiver, blutvoller gewünscht. So wie es ist, spricht es nur zu Wenigen. Und ich lebe nun einmal in dem Wunsch, Ihr Wort und damit auch jedes Zeichen, jedes Bildnis Ihrer Person möge zu Allen sprechen! – Jedoch, mir ist dies Bild teuer als ein neuer Beweis von Ihnen! Darum nochmals meinen allerherzlichsten Dank.

Für Schusters „Musik“ habe ich in letzter Zeit mehreres geschrieben, um einen Vorschuss des Verlages abzuarbeiten, 4 der eine Haÿdn-Biographie und den Belcanto erwartet, deren Manuskripte aber immer noch längst nicht abgeschlossen sind. Die kleine Chopin-Arbeit 5 ist eine Gelegenheitsarbeit, die ich dem Halbreiter Verlag 1921 auf Bestellung für eine Sammlung schrieb. Was Schuster von der „Musik“ anbetrifft, so ist er einer jener Kompromissler der es mit niemandem verderben möchte. Man nennt diese Leute, glaube ich, „objektiv.“ Seine Zeitschrift ist nicht stumpfsinniger als die anderen Musikzeitungen sind. {3} Er kriecht vor Bekker, Weißmann und Konsorten und komponiert Opern, worin er dem „Fortschritt“ huldigt, wie er mir einmal schrieb. Vrieslander hat bei mir eine dieser Opern gesehen und beinahe Krämpfe bekommen. Der lineare Kurth einen Hÿmnus auf diese Oper geschrieben, die er ein Meisterwerk nennt, von der eine neue Epoche der Operngeschichte beginnt usw., d.h. Kurth hat sein eigenes Todesurteil geschrieben.

Haben Sie übrigens bemerkt, dass die atonalen Apostel von Schönberg und seinen Nachfolgern abzurücken beginnen. O, wir werden noch einmal „modern?“.

Stefan und Hertzka haben 100 Mark Strafe für den unbefugten Nachdruck des „Offenen Briefes an Schönberg“ im „Anbruch“ zahlen müssen. 6 Das wird ihnen weh getan haben.

Uns geht es gut hier. Wir leben absolut einsam, ohne einen Menschen zu sehen. Das Kind ist gesund und fröhlich. Von den Händeln und Schachereien der Welt hören wir nur durch die Zeitungen die ich leider lesen muss.

Nochmals innigen Dank für Ihre herrliche Gabe und die herzlichsten Grüsse an Sie und Ihre verehrte Gattin


von uns dreien
stets Ihr treuergebener
[signed:] Walter Dahms
{4} [in upper part of sheet, in Schenker's(?) hand:]
Herrn Walter Dahms Monte Rosso ‒
[ photograph of Walter and Margarete Dahms]

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© Transcription John Koslovsky, 2012


Pallanza (Novara)
Villa Giuseppina
December 1, 1925


Dear and revered Master, 1

Yesterday your portrait arrived! 2 Because of the relationship between the Italian Customs Office and Post Office I had been awaiting its arrival with some fear. But thank goodness it was undamaged, and it will now make the most beautiful decoration to my room. We both thank you from the bottom of our hearts for the gift! The mezzotint is a significant artistic accomplishment, without a doubt. However I have to overcome a certain inner contradiction and resistance in me in order to grow accustomed to it. It seems to me that the artist rendered your character and your nature in a formal way, which today, while still in the midst of your work and creation, is still too early. I read into it a legend: "There was once a man who, like the priest in the desert, proclaimed to mankind a divine message. But they did not hear him. And he lived on a high mountain, in final solitude next to the eternal ice, and he observed everything down below with a deep melancholy." 3 .... One has to {2} know and understand you very deeply in order to be able to sense or comprehend the meaning of the portrait and its truth. I would have preferred something less symbolic and more lively, – God forbid not more "pleasing," – but more expansive, more warm-blooded. As it is, it speaks to only a precious few. And I live now with the hope that your words and thereby also every symbol, every portrait of your character can speak to everyone! – Nonetheless the portrait is dear to me as a new indication of you! For that once again my most heartfelt gratitude.

For Schuster's Die Musik I have recently written more in order to work off an advance payment of the publisher. 4 It is expecting a Haydn biography and the book on bel canto, for which the manuscripts are for a long time now still not complete. The small work on Chopin 5 is just an odd job that I wrote for Halbreiter Verlag in 1921 on an order for a collection. As far as Schuster from Die Musik is concerned, he is such a compromiser, who would like to try to please everybody. One calls these people, I believe, "objective." His journal is not as mindless as other music journals are. {3} He grovels before Bekker, Weißmann and Co. and composes operas, in which he embraces "progress," as he once wrote to me. Vrieslander showed me one of these operas and nearly had cramps. The linear Kurth wrote a hymn on this opera, which he called a masterpiece and proclaimed that a new epoch of opera history would begin, etc.; i.e., Kurth wrote his own death sentence.

Have you noticed, by the way, that the atonal apostles are beginning to distance themselves from Schoenberg and his successors. Oh, we are becoming "modern" once again?

Stefan and Hertzka had to pay a fine of 100 Marks for the unauthorized reprint of the "Open Letter to Schoenberg" in the Anbruch . 6 That will have hurt them some.

Things are well for us here. We are living absolutely alone, there is not a single person in sight. The kid is healthy and happy. We hear about the markets and the hagglers in the world only through the newspapers that unfortunately I must read.

Once again my deepest thanks for your wonderful gift, and warmest greetings to you and your dear wife


from all three of us.
your ever-true devotee,
[signed:] Walter Dahms
{4} [in upper part of sheet, in Schenker's(?) hand:]
Mr. Walter Dahms, Monte Rosso ‒
[photograph of Walter and Margarete Dahms]

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© Translation John Koslovsky, 2012

Footnotes

1 Receipt of this letter is recorded in Schenker's diary at OJ 3/8, p. 2898, December 3, 1925: "Von Dahms (Br.): dankt für das Bild; bedauert, daß die Auffassung Hammers, bei aller Vortrefflichkeit der Ausführung, eine Legende schafft von einem Mann, der weniger blutwarmes Leben zeigt als er hat." ("From Dahms (letter): thanks [me] for the portrait; regrets that Hammer's conception, however excellent the execution, creates an image of a man who shows less warm-bloodedness in life than he [actually] has.").

2 I.e. a mezzotint portrait made by the artist Viktor Hammer in 1925, a hundred copies of which were produced. In his diary, Schenker recorded sending notification of the impending arrival of the portrait at OJ 3/8, p. 2891, November 13, 1925: "An Dahms (K.): kündige das Blatt an, erzähle von Altmann." ("To Dahms (postcard): announce the portrait, recount [the news] from Altmann.").

3 This quotation by Dahms is clearly reminiscent of Friedrich Nietzsche's novel Also sprach Zarathustra.

4 In November 1925 Dahms published two articles for Die Musik: "Alessandro Scarlatti," XVIII/2, 97‒103, and "Mattia Battistini," ibid, 128‒32. In January 1926 Dahms published another article for Die Musik, "Ermanno Wolf-Ferrari," XVIII/4, 258‒63. In June 1923 Schenker himself contributed an article to the journal: "Joh. Seb. Bach: Wohltemperiertes Klavier, Band I, Präludium c-moll," XV/9, 641‒51. This article was later to find its way into Schenker's essay on the C-minor fugue in Das Meisterwerk in der Musik, vol. 2 (1926), with slight alterations.

5 Walter Dahms, Chopin (Munich: Otto Halbreiter, 1924).

6 In a 1924 issue commemorating the fiftieth birthday of Arnold Schoenberg, Musikblätter des Anbruch republished an open letter Dahms had written to Schoenberg in 1912 in the Berlin newspaper Das kleine Journal. See Walter Dahms, "Offener Brief an den Komponisten Arnold Schönberg," Musikblätter des Anbruch 6/7-8 (1924), 323‒24.