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[January 22, 1935:]

{3967} Bis zum 4. I. 35 gehen die eigenhändigen Notizen (dieses letzte Blatt Violin geschenkt). An diesem Tag trifft ein schlechter Befund ein 3.1%, wir rufen den Arzt. Er führt ihn auf den Schluck Sekt zurück, mit dem wir (schon vor 10h!) das neue Jahr begrüßt hatten. Wünscht nach einigen Tagen eine Analyse. Der geliebte Mann ist sehr schwach, unterrichtet aber mit dem Aufbot seiner letzten Kraft. An einen Ausgang ist nicht zu denken, trotz Lufthunger, – der Durst wird quälend, die Flüssigkeits[-]Zufuhr in Hinblick auf die Schwellung der Füße gedrosselt. Donnerstag den 10. I. sammeln wir wieder u. lassen Freitag, noch vor dem Einlagen des Befundes den Arzt kommen, wollen das Ergebnis der Analyse nachrufen. Er gibt an Stelle der früheren Medikamente etwas Neues, Tropfen, „Coramin“ 2 u. Zäpfchen, weil sich beim Frühstück ein Brechreiz eingestellt hatte. Im Vorzimmer macht er mir die Mitteilung, daß das Herz nicht gut sei. Nachmittag ist der Befund noch nicht da. Die Vormittagsstunde war abgesagt, auch die Nachmittagsstunde am Vortag (Elias) – Karl Rothberger hatte Donnerstag von ½12–¾1h die letzte Stunde – etwas geröteter Rachen, meint der Arzt, das Sprechen strengt sehr an! — Die Nacht von Freitag auf Samstag – bei offener Verbindungstür war nicht schlecht, ich erfrage teleph. den Befund: 3.6% u. melde ihn dem Arzt; er erscheint u. schlägt für den Abend ein Consilium mit dem Zuckerdirektor, Dr. Halberstam vor. Wahrscheinlich wird jetzt Insulin notwendig, die Zuckertoleranz des Organismus ist zuende!! Der Geliebte ißt mittags bei Tisch, wenig Appetit. Um 7h die Aerzte. Dr. H. untersucht, sie ziehen sich zurück, rufen mich dann u. machen mir die Mitteilung, daß sich die ersten Insulin-Versuche nur im Sanatorium vornehmen lassen, es schreckt mich nicht sehr u. auch mein Heinelein ist {3968} für diese Kur. Noch in Gegenwart der Aerzte, um ¼9h bestelle ich einen Kranken-Transportwagen für Sonntag früh ½9h. Die Aerzte gehen, ich bringe den Geliebten zur Ruhe u. packe dann das Nötigste ein. Vormitternacht reiche ich zweimal die Urinflasche, dann schlafen wir beide. Ich stehe um ½7h auf, mache mich rasch fertig u. gehe dann ins Arbeitszimmer. Nach der morgenüblichen Begrüßung fragt mein theueres Heinelein: „Und was geschieht jetzt mit mir?“ Ich quäle ihn nicht mit Toilettenmachen, das kann im Sanatorium geschehen, gebe ihm warme Handschuhe, eine Strickweste, einen Shawl um den Hals, dann den Schlafrock u. auf den Kopf das seidene Mützchen u. darüber die schwarze Hauskappe. Als ich den Winterrock an Stelle einer Decke vorschlage, meint der Geliebte: „Ja, vielleicht kann ich dort einmal in den Garten gehen.“ Die Träger kommen, alles geht sehr schnell – unterwegs schlummert der Teuere u. während ich den Transport bezahle ist er auch schon zu Bett gebracht. Bald erscheint ein Arzt – Dr. Urban? – u. nimmt eine Blutprobe (später sagt mir Dir. H. daß sie das Vierfache der normalen Blutzuckermenge ergeben haben). Gewicht bei der Aufnahme: 63 kg! – als Gott ihn mir schenkte: 99 kg! Aus einer leichten Benommenheit spricht der Kranke: „Ich will nur wissen, wie das mit der Saar 3 ausgegangen ist.[“] – Insulin-Injektion. Dir. H.: „Ich werde Ihnen später zeigen, wie Sie es machen sollen.“ Violin zu Besuch – um 8h hatte ich ihn umdirigirt, er wollte in die Keilgasse kommen. Ich benutze seine Anwesenheit um die vergessene Zahnprothese, Wein u. die geliebten Preiselbeeren zu holen. Speisezettel wird gemacht, trotz Injektion kein Appetit, mühsames Essen, quälender Durst, größere Flüssigkeitszufuhr erlaubt, ja erwünscht. Um ½6h Violin – ich gehe etwas essen, bin bald zurück, der Theuere hatte mehrmals nach mir ge- {3969} fragt. Große Unruhe, die Decke wird nicht geduldet, ich gebe dem Geliebten eine Hose u. Socken an die eiskalten Füße. Kleide mich aus u. sitze am Rande meines Divanbettes. Vielleicht hat mich Schlaf übermannt – plötzlich höre ich: „Lie-Liechen, Licht[“] – ich springe auf u. eile ans Bett – links kann ich keinen Puls fühlen, rechts dann einen ganz dünnen, ich läute, die Schwester kommt u. meint, der ist ja gar nicht so schlecht u. geht weg. So denke ich mir, nun geht sie u. läßt uns hilflos zurück – aber bald kommt sie mit Dr. H zurück. Ich höre „Kampfer“ – o, wie schrecklich – aber auch das war vor 4 Jahren schon einmal da, u. Gott hatte weitergeholfen. Auch Coffein wird injizirt u. ich sollte kein Medikament mehr geben. Da der Arme aber keinen Schlaf findet, gebe ich dennoch ein Artrial, 4 das er leider zerbeißt u. nun einen quälenden, bitteren Geschmack im Munde hat. Aus einer leichten Benommenheit höre ich ihn dann sagen „… aus . .“ 5 was denn, aus, sage ich, wir werden noch miteinander tanzen – u. mit einer ärgerlichen Geste, weil ich nicht verstanden habe, setzt er fort: „… aus, . . aus der Matthäuspassion ist mir etwas eingefallen . .“ das waren die letzten Worte meines Heißgeliebten. Dir. H. kommt, schüttelt den Kopf u. fragt, ob er den Hausarzt rufen soll. Freilich, schnell, – mir wird bange, ich fühle das Bedürfnis nach einem Freund – bitte, Violin soll kommen, sie rufen ihn von der Portierloge aus – der Arzt ist sehr schnell zur Stelle, sie geben eine Injektion. Dir. H. fragt, ob er noch jemand rufen soll – ja, schnell, ein Dozent Herz erscheint, der Kranke begrüßt ihn u. ein Lächeln der Zuversicht, hilfesuchend, leuchtet auf – eine Kochsalz-Injektion in die Vene an der rechten Armbeuge. Indessen bemerke ich zu meinem {3970} Entsetzen, daß der rechte linke Unterarm u. die Hand ganz weiß u. kalt geworden ist. Die Schwester reibt sie mit Franzbranntwein, ich versuche dann durch fortgesetztes Reiben die Hand zu erwärmen u. bilde mir auch ein, daß es gelingt. Die Aerzte gehen, Dir. H. sitzt rechts, ich stehe links, der Kranke legt die Hände gefaltet ineinander, die rechte warme, rote u. die gelähmte, weiße, kalte, dreht den Kopf etwas zu mir hin, ich sehe plötzlich das Weiße im Auge u. höre ein Röcheln, Herr Doktor, schreie ich, er erschrickt, legt den Finger auf den Mund zum Zeichen, daß ich den erhabenen Augenblick nicht entweihen möge – noch zweimal röchelt der Geliebte – dann hat der Große, Edle seine Seele ausgehaucht! Ohne Schmerz, ohne Kampf – u. nun lag er da wie der verkörperte Frieden! Violin u. Frau waren um wenige Minuten zu spät gekommen! Diese 3970 Blätter waren nie für die Öffentlichkeit bestimmt, nur für uns als Gedächtniskrücke – wenn auch vieles darin enthalten ist, was interessant, belehrend u. aufklärend ist. Die Spanne Zeit, die zu leben mir noch bestimmt ist, werde ich nur dem Werke widmen – was sonst in mir u. um mich herum noch vorgehen mag ist – ohne ihn! – nicht wert, festgehalten zu werden, u. so schließe ich ab mit dem zuversichtlichen Gedanken: Es kann die Spur von unsern Erdentagen nicht in Aeonen untergeh’n —


Wien, den 22. Januar 1935

© Transcription Marko Deisinger.

[January 22, 1935:]

{3967} The notes in Schenker’s hand go up to January 4, 1935. (This last page was given as a present to Violin.) On this day, a bad result arrives: 3.1%; we telephone the doctor. He attributes it to a sip of sparkling wine, with which we had greeted the New Year (already before 10 o’clock!). He would like an analysis after a few days. My dear husband is very weak, but teaches by summoning his last ounce of strength. To make an exit is inconceivable, in spite of shortness of breath – his thirst pains him, the intake of liquids [must be] curbed in view of the swelling in his feet. On Thursday, January 10, we collect a sample; and on Friday we call the doctor even before the results have arrived; we will telephone the results of the analysis afterwards. Instead of the earlier medications, he administers something new: drops, Coramine, 2 and suppositories, since he [Heinrich] was feeling nauseous at breakfast. In the anteroom, he tells me that his heart is not good; by the afternoon, the result has still not arrived. The morning lesson was cancelled, likewise the afternoon lesson of the previous day (Elias); Karl Rothberger had the last lesson, on Thursday from 11:30 to 12:45. A somewhat reddened pharynx, says the doctor; speaking is very strenuous! —The night from Friday to Saturday, with the interconnecting door open, was not bad; I telephone to inquire about the result – 3.6% – and report it to the doctor; he appears, and recommends taking advice from the sugar consultant, Dr. Halberstam. Insulin will probably be necessary now: the sugar tolerance of the organism is finished!! My beloved gets up for lunch at midday, with little appetite. At 7 o’clock the doctors arrive. Dr Halberstam examines him, they retreat, then summon me to tell me that the first insulin tests can be made only in the sanatorium; this does not frighten me a great deal, and even my little Heinrich is {3968} in favor of this treatment. Still in the presence of the doctors, at 8:15 I order an ambulance for Sunday morning at 8:30. The doctors leave, I calm my beloved, and then pack the most necessary things. Before midnight, I pass him the urine bottle; then the two of us sleep. I get up at 6:30, quickly get ready, then go into the study. After the usual morning greeting, my dear little Heinrich asks: "And what will happen to me now?" I do not trouble him with grooming himself; that can be taken care of at the sanatorium. I give him warm gloves, a knitted vest, a shawl around his neck, then the bathrobe, and on his head the silk skullcap and on top of that the black house-cap. When I suggest the winter coat instead of a blanket, my beloved replies: "Yes, perhaps at some point I shall be able to go round the garden there." The stretcher arrives, everything goes very quickly – my dear man slumbers en route; and while I am paying for the transport, he is already being taken to his bed. A doctor appears soon – Dr. Urban? – and takes a blood sample. (Later, Dr. Halberstam tells me that the blood sugar level was four times the normal amount.) Weight upon arrival: 63 kg! When God delivered him to me, he weighed 99 kg! In a slightly drowsy condition, the invalid speaks: "I only want to know how things have turned out with the Saarland." 3 – Insulin injection. Dr. Halberstam: "I shall show you later how to do it." Violin for a visit – I had redirected him at 8 o’clock: he wanted to come to the Keilgasse. I use his presence to fetch the dentures, wine, and the cranberries of which he is so fond. A meal card is drawn up; in spite of the insulin, no appetite, difficulty eating, painful thirst; a rather large intake of liquids is permitted, actually desired. At 5:30, Violin – I go for a bite to eat, return soon, my dear man had asked after me several times. {3969} Much restlessness: the blanket is not tolerated, I give my beloved a pair of trousers and socks for his ice-cold feet. I get undressed and sit at the edge of my divan bed. Perhaps sleep got the better of me – suddenly I hear: "Lie-Liechen, light!" – I jump up and hurry to his bed – on the left I cannot feel any pulse; on the right a very weak one. I ring, the nurse comes and thinks that he is not at all so bad and goes away. So I think to myself: now she has gone and leaves us behind, helpless – but soon she comes back with Dr. Halberstam. I hear "camphor" – oh, how dreadful – but that was already four years ago, and God had continued to help. Caffeine, too is injected; and I should not give him any more medication. But since the poor man is unable to sleep, I nonetheless give him a [tablet of] Artrial 4 which he unfortunately bites on, and now has a painful, bitter taste in his mouth. I then hear him say, in a light state of drowsiness: "…over…"; 5 "what do you mean by ‘over’?" I ask, "we shall yet be dancing together" – and with an angry gesture, because I had not understood, he continues, "…in…in the St. Matthew Passion an idea has occurred to me…" – these were the last words of my dearly beloved. Dr. Halberstam comes, shakes his head, and asks if he should summon the house doctor. "Of course, quickly" – I become anxious, I feel the need for a friend – "Please, Violin should come" – they summon him from the porter’s lodge; the doctor is on the scene very quickly, they give him an injection. Dr. Halberstam asks if he should call someone else – "Yes, quickly." An assistant by the name of Herz appears, the invalid greets him and a smile of assurance, seeking help, shining forth – [he is given] an injection of a common salt solution into the vein in the crook of the right arm. In the meantime I notice, to my {3970} horror, that his lower right left underarm and the hand have become entirely white and cold. The nurse rubs it with rubbing alcohol; I then attempt to warm the hand with continued rubbing and even imagine that this is succeeding. The doctors leave; Dr. Halberstam sits at the right, I stand at the left, the invalid folds his arms together, the right one warm and red, and the benumbed one white, cold. He turns his head a bit towards me; I suddenly see the white in his eye, and hear a gasping. "Doctor!" I cry out; he is frightened, puts a finger to his mouth as a sign that I might not wish to profane the exalted moment. My beloved gasps two more times – then the great, noble man has breathed his last breath! Without pain, without a struggle – and now he lay there like the embodiment of peace! Violin and his wife had arrived only a few minutes too late! These 3970 pages were never intended for general view, only for us as a memory crutch – even if there is much in them that is interesting, educative, and explanatory. The period of time that is yet granted to my life shall be devoted only to his work: what else there may be within me, what else may yet happen around me – without him! – is not worth holding on to. And so I close with the comforting thought: the trace of our earthly days cannot perish in all eternity. —


Vienna, January 22, 1935

© Translation William Drabkin.

[January 22, 1935:]

{3967} Bis zum 4. I. 35 gehen die eigenhändigen Notizen (dieses letzte Blatt Violin geschenkt). An diesem Tag trifft ein schlechter Befund ein 3.1%, wir rufen den Arzt. Er führt ihn auf den Schluck Sekt zurück, mit dem wir (schon vor 10h!) das neue Jahr begrüßt hatten. Wünscht nach einigen Tagen eine Analyse. Der geliebte Mann ist sehr schwach, unterrichtet aber mit dem Aufbot seiner letzten Kraft. An einen Ausgang ist nicht zu denken, trotz Lufthunger, – der Durst wird quälend, die Flüssigkeits[-]Zufuhr in Hinblick auf die Schwellung der Füße gedrosselt. Donnerstag den 10. I. sammeln wir wieder u. lassen Freitag, noch vor dem Einlagen des Befundes den Arzt kommen, wollen das Ergebnis der Analyse nachrufen. Er gibt an Stelle der früheren Medikamente etwas Neues, Tropfen, „Coramin“ 2 u. Zäpfchen, weil sich beim Frühstück ein Brechreiz eingestellt hatte. Im Vorzimmer macht er mir die Mitteilung, daß das Herz nicht gut sei. Nachmittag ist der Befund noch nicht da. Die Vormittagsstunde war abgesagt, auch die Nachmittagsstunde am Vortag (Elias) – Karl Rothberger hatte Donnerstag von ½12–¾1h die letzte Stunde – etwas geröteter Rachen, meint der Arzt, das Sprechen strengt sehr an! — Die Nacht von Freitag auf Samstag – bei offener Verbindungstür war nicht schlecht, ich erfrage teleph. den Befund: 3.6% u. melde ihn dem Arzt; er erscheint u. schlägt für den Abend ein Consilium mit dem Zuckerdirektor, Dr. Halberstam vor. Wahrscheinlich wird jetzt Insulin notwendig, die Zuckertoleranz des Organismus ist zuende!! Der Geliebte ißt mittags bei Tisch, wenig Appetit. Um 7h die Aerzte. Dr. H. untersucht, sie ziehen sich zurück, rufen mich dann u. machen mir die Mitteilung, daß sich die ersten Insulin-Versuche nur im Sanatorium vornehmen lassen, es schreckt mich nicht sehr u. auch mein Heinelein ist {3968} für diese Kur. Noch in Gegenwart der Aerzte, um ¼9h bestelle ich einen Kranken-Transportwagen für Sonntag früh ½9h. Die Aerzte gehen, ich bringe den Geliebten zur Ruhe u. packe dann das Nötigste ein. Vormitternacht reiche ich zweimal die Urinflasche, dann schlafen wir beide. Ich stehe um ½7h auf, mache mich rasch fertig u. gehe dann ins Arbeitszimmer. Nach der morgenüblichen Begrüßung fragt mein theueres Heinelein: „Und was geschieht jetzt mit mir?“ Ich quäle ihn nicht mit Toilettenmachen, das kann im Sanatorium geschehen, gebe ihm warme Handschuhe, eine Strickweste, einen Shawl um den Hals, dann den Schlafrock u. auf den Kopf das seidene Mützchen u. darüber die schwarze Hauskappe. Als ich den Winterrock an Stelle einer Decke vorschlage, meint der Geliebte: „Ja, vielleicht kann ich dort einmal in den Garten gehen.“ Die Träger kommen, alles geht sehr schnell – unterwegs schlummert der Teuere u. während ich den Transport bezahle ist er auch schon zu Bett gebracht. Bald erscheint ein Arzt – Dr. Urban? – u. nimmt eine Blutprobe (später sagt mir Dir. H. daß sie das Vierfache der normalen Blutzuckermenge ergeben haben). Gewicht bei der Aufnahme: 63 kg! – als Gott ihn mir schenkte: 99 kg! Aus einer leichten Benommenheit spricht der Kranke: „Ich will nur wissen, wie das mit der Saar 3 ausgegangen ist.[“] – Insulin-Injektion. Dir. H.: „Ich werde Ihnen später zeigen, wie Sie es machen sollen.“ Violin zu Besuch – um 8h hatte ich ihn umdirigirt, er wollte in die Keilgasse kommen. Ich benutze seine Anwesenheit um die vergessene Zahnprothese, Wein u. die geliebten Preiselbeeren zu holen. Speisezettel wird gemacht, trotz Injektion kein Appetit, mühsames Essen, quälender Durst, größere Flüssigkeitszufuhr erlaubt, ja erwünscht. Um ½6h Violin – ich gehe etwas essen, bin bald zurück, der Theuere hatte mehrmals nach mir ge- {3969} fragt. Große Unruhe, die Decke wird nicht geduldet, ich gebe dem Geliebten eine Hose u. Socken an die eiskalten Füße. Kleide mich aus u. sitze am Rande meines Divanbettes. Vielleicht hat mich Schlaf übermannt – plötzlich höre ich: „Lie-Liechen, Licht[“] – ich springe auf u. eile ans Bett – links kann ich keinen Puls fühlen, rechts dann einen ganz dünnen, ich läute, die Schwester kommt u. meint, der ist ja gar nicht so schlecht u. geht weg. So denke ich mir, nun geht sie u. läßt uns hilflos zurück – aber bald kommt sie mit Dr. H zurück. Ich höre „Kampfer“ – o, wie schrecklich – aber auch das war vor 4 Jahren schon einmal da, u. Gott hatte weitergeholfen. Auch Coffein wird injizirt u. ich sollte kein Medikament mehr geben. Da der Arme aber keinen Schlaf findet, gebe ich dennoch ein Artrial, 4 das er leider zerbeißt u. nun einen quälenden, bitteren Geschmack im Munde hat. Aus einer leichten Benommenheit höre ich ihn dann sagen „… aus . .“ 5 was denn, aus, sage ich, wir werden noch miteinander tanzen – u. mit einer ärgerlichen Geste, weil ich nicht verstanden habe, setzt er fort: „… aus, . . aus der Matthäuspassion ist mir etwas eingefallen . .“ das waren die letzten Worte meines Heißgeliebten. Dir. H. kommt, schüttelt den Kopf u. fragt, ob er den Hausarzt rufen soll. Freilich, schnell, – mir wird bange, ich fühle das Bedürfnis nach einem Freund – bitte, Violin soll kommen, sie rufen ihn von der Portierloge aus – der Arzt ist sehr schnell zur Stelle, sie geben eine Injektion. Dir. H. fragt, ob er noch jemand rufen soll – ja, schnell, ein Dozent Herz erscheint, der Kranke begrüßt ihn u. ein Lächeln der Zuversicht, hilfesuchend, leuchtet auf – eine Kochsalz-Injektion in die Vene an der rechten Armbeuge. Indessen bemerke ich zu meinem {3970} Entsetzen, daß der rechte linke Unterarm u. die Hand ganz weiß u. kalt geworden ist. Die Schwester reibt sie mit Franzbranntwein, ich versuche dann durch fortgesetztes Reiben die Hand zu erwärmen u. bilde mir auch ein, daß es gelingt. Die Aerzte gehen, Dir. H. sitzt rechts, ich stehe links, der Kranke legt die Hände gefaltet ineinander, die rechte warme, rote u. die gelähmte, weiße, kalte, dreht den Kopf etwas zu mir hin, ich sehe plötzlich das Weiße im Auge u. höre ein Röcheln, Herr Doktor, schreie ich, er erschrickt, legt den Finger auf den Mund zum Zeichen, daß ich den erhabenen Augenblick nicht entweihen möge – noch zweimal röchelt der Geliebte – dann hat der Große, Edle seine Seele ausgehaucht! Ohne Schmerz, ohne Kampf – u. nun lag er da wie der verkörperte Frieden! Violin u. Frau waren um wenige Minuten zu spät gekommen! Diese 3970 Blätter waren nie für die Öffentlichkeit bestimmt, nur für uns als Gedächtniskrücke – wenn auch vieles darin enthalten ist, was interessant, belehrend u. aufklärend ist. Die Spanne Zeit, die zu leben mir noch bestimmt ist, werde ich nur dem Werke widmen – was sonst in mir u. um mich herum noch vorgehen mag ist – ohne ihn! – nicht wert, festgehalten zu werden, u. so schließe ich ab mit dem zuversichtlichen Gedanken: Es kann die Spur von unsern Erdentagen nicht in Aeonen untergeh’n —


Wien, den 22. Januar 1935

© Transcription Marko Deisinger.

[January 22, 1935:]

{3967} The notes in Schenker’s hand go up to January 4, 1935. (This last page was given as a present to Violin.) On this day, a bad result arrives: 3.1%; we telephone the doctor. He attributes it to a sip of sparkling wine, with which we had greeted the New Year (already before 10 o’clock!). He would like an analysis after a few days. My dear husband is very weak, but teaches by summoning his last ounce of strength. To make an exit is inconceivable, in spite of shortness of breath – his thirst pains him, the intake of liquids [must be] curbed in view of the swelling in his feet. On Thursday, January 10, we collect a sample; and on Friday we call the doctor even before the results have arrived; we will telephone the results of the analysis afterwards. Instead of the earlier medications, he administers something new: drops, Coramine, 2 and suppositories, since he [Heinrich] was feeling nauseous at breakfast. In the anteroom, he tells me that his heart is not good; by the afternoon, the result has still not arrived. The morning lesson was cancelled, likewise the afternoon lesson of the previous day (Elias); Karl Rothberger had the last lesson, on Thursday from 11:30 to 12:45. A somewhat reddened pharynx, says the doctor; speaking is very strenuous! —The night from Friday to Saturday, with the interconnecting door open, was not bad; I telephone to inquire about the result – 3.6% – and report it to the doctor; he appears, and recommends taking advice from the sugar consultant, Dr. Halberstam. Insulin will probably be necessary now: the sugar tolerance of the organism is finished!! My beloved gets up for lunch at midday, with little appetite. At 7 o’clock the doctors arrive. Dr Halberstam examines him, they retreat, then summon me to tell me that the first insulin tests can be made only in the sanatorium; this does not frighten me a great deal, and even my little Heinrich is {3968} in favor of this treatment. Still in the presence of the doctors, at 8:15 I order an ambulance for Sunday morning at 8:30. The doctors leave, I calm my beloved, and then pack the most necessary things. Before midnight, I pass him the urine bottle; then the two of us sleep. I get up at 6:30, quickly get ready, then go into the study. After the usual morning greeting, my dear little Heinrich asks: "And what will happen to me now?" I do not trouble him with grooming himself; that can be taken care of at the sanatorium. I give him warm gloves, a knitted vest, a shawl around his neck, then the bathrobe, and on his head the silk skullcap and on top of that the black house-cap. When I suggest the winter coat instead of a blanket, my beloved replies: "Yes, perhaps at some point I shall be able to go round the garden there." The stretcher arrives, everything goes very quickly – my dear man slumbers en route; and while I am paying for the transport, he is already being taken to his bed. A doctor appears soon – Dr. Urban? – and takes a blood sample. (Later, Dr. Halberstam tells me that the blood sugar level was four times the normal amount.) Weight upon arrival: 63 kg! When God delivered him to me, he weighed 99 kg! In a slightly drowsy condition, the invalid speaks: "I only want to know how things have turned out with the Saarland." 3 – Insulin injection. Dr. Halberstam: "I shall show you later how to do it." Violin for a visit – I had redirected him at 8 o’clock: he wanted to come to the Keilgasse. I use his presence to fetch the dentures, wine, and the cranberries of which he is so fond. A meal card is drawn up; in spite of the insulin, no appetite, difficulty eating, painful thirst; a rather large intake of liquids is permitted, actually desired. At 5:30, Violin – I go for a bite to eat, return soon, my dear man had asked after me several times. {3969} Much restlessness: the blanket is not tolerated, I give my beloved a pair of trousers and socks for his ice-cold feet. I get undressed and sit at the edge of my divan bed. Perhaps sleep got the better of me – suddenly I hear: "Lie-Liechen, light!" – I jump up and hurry to his bed – on the left I cannot feel any pulse; on the right a very weak one. I ring, the nurse comes and thinks that he is not at all so bad and goes away. So I think to myself: now she has gone and leaves us behind, helpless – but soon she comes back with Dr. Halberstam. I hear "camphor" – oh, how dreadful – but that was already four years ago, and God had continued to help. Caffeine, too is injected; and I should not give him any more medication. But since the poor man is unable to sleep, I nonetheless give him a [tablet of] Artrial 4 which he unfortunately bites on, and now has a painful, bitter taste in his mouth. I then hear him say, in a light state of drowsiness: "…over…"; 5 "what do you mean by ‘over’?" I ask, "we shall yet be dancing together" – and with an angry gesture, because I had not understood, he continues, "…in…in the St. Matthew Passion an idea has occurred to me…" – these were the last words of my dearly beloved. Dr. Halberstam comes, shakes his head, and asks if he should summon the house doctor. "Of course, quickly" – I become anxious, I feel the need for a friend – "Please, Violin should come" – they summon him from the porter’s lodge; the doctor is on the scene very quickly, they give him an injection. Dr. Halberstam asks if he should call someone else – "Yes, quickly." An assistant by the name of Herz appears, the invalid greets him and a smile of assurance, seeking help, shining forth – [he is given] an injection of a common salt solution into the vein in the crook of the right arm. In the meantime I notice, to my {3970} horror, that his lower right left underarm and the hand have become entirely white and cold. The nurse rubs it with rubbing alcohol; I then attempt to warm the hand with continued rubbing and even imagine that this is succeeding. The doctors leave; Dr. Halberstam sits at the right, I stand at the left, the invalid folds his arms together, the right one warm and red, and the benumbed one white, cold. He turns his head a bit towards me; I suddenly see the white in his eye, and hear a gasping. "Doctor!" I cry out; he is frightened, puts a finger to his mouth as a sign that I might not wish to profane the exalted moment. My beloved gasps two more times – then the great, noble man has breathed his last breath! Without pain, without a struggle – and now he lay there like the embodiment of peace! Violin and his wife had arrived only a few minutes too late! These 3970 pages were never intended for general view, only for us as a memory crutch – even if there is much in them that is interesting, educative, and explanatory. The period of time that is yet granted to my life shall be devoted only to his work: what else there may be within me, what else may yet happen around me – without him! – is not worth holding on to. And so I close with the comforting thought: the trace of our earthly days cannot perish in all eternity. —


Vienna, January 22, 1935

© Translation William Drabkin.

Footnotes

2 Coramine, a medication containing Nikethamide, an agent from the group of analeptics, which acts as a stimulus for the circulatory system, the nervous system, and breathing.

3 In 1920 the Saarland was separated from Germany and became a territory mandated by the League of Nations. On January 13, 1935, a referendum was held – the Saarabstimmung – in which more the 90 percent of the people of the Saarland voted in favor of reunification with Germany.

4 Artrial: a mixture of theobromine and phenyl-ethyl barbiturate. Theobromine is intended to dilate the blood vessels; Phenyl-ethyl barbiturate has the effect of relieving cramps.

5 Aus: hearing the word pronounced on its own, Jeanette interprets it as short for Es ist alles aus, "It is all over." But Schenker, continuing to speak, uses the word in its conventional sense as a preposition.