25. Der Tag setzt nicht unfreundlich ein, mit lichten Nebeln.

— Um ½10h auf dem Wirl-Weg, schon nach einer halben Stunde die ersten Tropfen. — Ins Rössle, wo ich ohne Störung wieder spielen kann; das Instrument ist binnen wenigen Tagen völlig zurückgegangen. Die Kellnerin erkennt das Adur-Andante von Mozart wieder, {2857} das ihr letzthin Freude bereitet hat, sie ladet mich ein, bald wieder zu spielen! — Nehme die Ordnung der ersten Abschnitte des Bd. IV in Angriff. — Der Regen scheint sich niederlassen zu wollen. — Aus einem Gespräch mit Vrieslander: Hölderlin war kraft der Begnadung ein mit sich selbst Beginnender, u. eben als ein Beginnender hatte er ordentlich geistiges Heimweh nach einer beginnenden Epoche, wie die griechische eine war, so lange sie im Kult wurzelte. Alle Entwicklungen, besorgt von denen, die nach dem Anfang kommen, blieben ihm unverständlich u. unliebsam, das erste Morgenrot allein, die erste Verbundenheit der Natur u. der Gottheit u. der Ausdruck aller dieser Hochgefühle waren sein Wesen. In späteren Jahren mochte er die Wirklichkeit besser begreifen lernen u. schließlich fand er sogar zur Heimat u. Gegenwart zurück. Aber im Irrsinn noch schlug sein Erstes wieder durch, sein Heimweh nach einem Mit-sich-beginnenden. Die in allen Gassen der Literatur sich Tummelnden können einen solchen keuschen ersten Aufblick des Geistes gar nicht fassen. —

*

Aus einem Gespräch mit Lie-Liechen: Goethe (?) sagt „Die Kirche hat einen guten Magen, ...“ Aber auch die Kunst hat einen Magen! In ihrer Gesamtheit als Summe von Kunstwerken, von Menschen, die ihr nachschaffend oder verbreitend dienen. Sie kennt daher schon wegen ihrer Lebensnotdurft keine chinesische Mauer, sie stützt sich sogar in erster Reihe auf die Teilnahme einer Klasse von Menschen, die (vgl. Schiller „Ueber das Erhabene“ 1 (?)), den Lebenssorgen entrückt, nach Maßgaben ihres Talents der Kunst sich nähern. Mag man vom höchsten Standpunkt aus auch diese Klasse für im Grunde unzuständig halten, so ist der Künstler dennoch auf sie angewiesen, wenn er sein Leben der Kunst widmen will. Ja diese Klasse verdient in einer gewissen {2859} Hinsicht sogar mehr Schätzung als die Unsumme von Musikern, die durch ihre Betriebsamkeit, ihren Eigennutz, ohne Kenntnisse falsche Bilder von den Meisterwerken verbreiten, also eine schlechte Erziehung betreiben. Schließlich kommt es dazu, daß die falschen Vorstellungen überhandnehmen u. selbst die Besten es für aussichtslos halten, den in aller Welt beglaubigten Vertretern der Kunst entgegenzutreten. Jene Klasse von reichen Menschen ist es schließlich auch, die, zu Gesellschaften vereint, die Existenz der Künstler ermöglichen, von der des Kunstwerks nicht zu sprechen. —

*

Aus einem Gespräch mit Lie-Liechen: Wir leben, zurückgezogen, ausschließlich dem Werk. Unser Leben stützt sich auf Einnahmen aus der erwähnten Menschenklasse. Diese Einnahmen ermöglichen die Zurückgezogenheit. In dieser Lage bringen uns Zeitungen Ersatz für den Umgang mit Menschen. Es ist freilich ein Anderes, eine lebendige Mitteilung von Geschehnissen des Tages aus diesem oder jenem Lande zu erhalten; da wir uns aber dieses versagen müssen, so bleibt die Zeitung das einzige Mittel der Verbindung mit der Außenwelt. Der Umgang mit Menschen kann mir schon deshalb nicht einträglich sein, weil sie zu mir nur mit der Absicht kommen, etwas von mir zu erfahren, zu lernen, wo ich doch umgekehrt von ihnen etwas vom Leben draußen hören möchte. Gegenüber dieser Tatsache fällt es gar nicht mehr ins Gewicht, ob es von Wert wäre, was ich von ihnen erfahren könnte – es kommt gar nicht dazu, daß sie mir etwas bringen, da sie immer von mir etwas holen wollen. Mag man die Dinge, die die Zeitung bringen, noch so gering schätzen, sie erfrischen dennoch in Pausen der Tätigkeit den Geist, regen ihn man[n]igfach an u. machen das Gehirn sozusagen weltläufiger, verzweigter. {2859} So wie der Städter einem Dörfler durch die Vielfalt der Interessen, der Gewohnheiten, der Gebräuche überlegen ist, ähnlich wird auch ein die Welt auf u. ab [illeg]spazierendes Gehirn jenem überlegen, das sich höchstens an den Bekannten u. deren mündlichem Getratsch erholt. In beiden Fällen wird die Prägung des Gehirnes eine andere sein u. die Ueberlegenheit sogleich zutage treten, obschon nicht alles Gelesene dem Bewußtsein nicht immer gegenwärtig sein kann. —

© Transcription Marko Deisinger.

25 The day starts not disagreeably, with light fog.

— At 9:30 on the trail to Wirl, the first raindrops already after a half hour. — Into Rössle, where I can play again without disturbance; the instrument has gone back completely within just a few days. The waitress recognizes the A-major Andante by Mozart, {2857} which has recently given her pleasure, she invites me to play again soon! — I start in on sorting out the first sections of volume IV. — The rain seems to want to settle in. — From a conversation with Vrieslander: based on the power of endowment, Hölderlin was someone starting anew with himself, and as someone starting anew, he had a serious intellectual longing to return home to an epoch starting anew, such as the Greek epoch was, as long as it was rooted in cult. All developments contributed by those who came after the start, are incomprehensible and disagreeable to him, only the first red glow of the sunrise, the first connection with nature and the godly and the expression of all of these highest feelings were his essence. In later years, he may have been able to understand reality better and he ultimately even found his way back to his homeland and to the presence. But, still in madness, his initial [impulse] took hold again, his longing to return home to starting anew with himself. Those who liberally wander the many paths of literature cannot even grasp such a chaste first upward glance of intellect like this. —

*

From a conversation with Lie-Liechen: Goethe (?) says "The church has a good stomach, ..." But art also has a stomach! In its entirety as the sum of works of art, of people who serve art by recreating or disseminating it. On account of its vital essence, art knows no Wall of China, it is even based first and foremost on the involvement of a class of people who (compare Schiller's "On the Sublime" 1 (?)), removed from life's worries, approach art in accordance with their talent. One may view this class from the highest standpoint as fundamentally not responsible as well, but the artist is nonetheless dependant on it if he wants to dedicate his life to art. Indeed, in a certain sense, this class is even worthy {2859} of more appreciation than the countless musicians who through their activity, their selfishness, without knowledge disseminate erroneous portrayals of the masterworks, that is, they educate poorly. The ultimate result is that the erroneous conceptions win the upper hand and even the best consider it hopeless to stand up against representatives of art recognized across the world. It is ultimately this class of wealthy people that, united into societies, makes it possible for artists to exist, not to mention art works. —

*

From a conversation with Lie-Liechen: We are living, withdrawn, exclusively for the work. Our life is based on income from the class of people mentioned. This income makes withdrawal possible. In this situation, newspapers deliver a substitute for interactions with people. Of course it is different to receive live communication of the day's events from this or that country; but since we have to make do without that, the newspaper is the only means of connection to the outside world. It is impossible for me to find interaction with people rewarding just because they only come to me with the intention of experiencing something, of learning something from me, whereas, just the opposite, I would like to hear something from them about life outside. Given this fact, the question of whether what I could learn from them would be valuable is no longer of consequence – we never even get to the point where they bring me something, because they always want to draw something from me. No matter how insignificant one may find what the newspapers offer, they nonetheless refresh in the breaks in intellectual activity, stimulate the intellect in multiple ways, and make the brain so to speak broader, more finely branched. {2859} Just as a city dweller is superior to a village dweller in terms of the diversity of interests, of habits, of customs, similarly a brain that meanders up and down through the world is superior to one for which the source of renewal is, at best, acquaintances and their verbal gossip. In both cases, different impressions are made on the brain and the superiority can immediately reveal itself, even though our conscious mind cannot always recall everything we read.

© Translation Scott Witmer.

25. Der Tag setzt nicht unfreundlich ein, mit lichten Nebeln.

— Um ½10h auf dem Wirl-Weg, schon nach einer halben Stunde die ersten Tropfen. — Ins Rössle, wo ich ohne Störung wieder spielen kann; das Instrument ist binnen wenigen Tagen völlig zurückgegangen. Die Kellnerin erkennt das Adur-Andante von Mozart wieder, {2857} das ihr letzthin Freude bereitet hat, sie ladet mich ein, bald wieder zu spielen! — Nehme die Ordnung der ersten Abschnitte des Bd. IV in Angriff. — Der Regen scheint sich niederlassen zu wollen. — Aus einem Gespräch mit Vrieslander: Hölderlin war kraft der Begnadung ein mit sich selbst Beginnender, u. eben als ein Beginnender hatte er ordentlich geistiges Heimweh nach einer beginnenden Epoche, wie die griechische eine war, so lange sie im Kult wurzelte. Alle Entwicklungen, besorgt von denen, die nach dem Anfang kommen, blieben ihm unverständlich u. unliebsam, das erste Morgenrot allein, die erste Verbundenheit der Natur u. der Gottheit u. der Ausdruck aller dieser Hochgefühle waren sein Wesen. In späteren Jahren mochte er die Wirklichkeit besser begreifen lernen u. schließlich fand er sogar zur Heimat u. Gegenwart zurück. Aber im Irrsinn noch schlug sein Erstes wieder durch, sein Heimweh nach einem Mit-sich-beginnenden. Die in allen Gassen der Literatur sich Tummelnden können einen solchen keuschen ersten Aufblick des Geistes gar nicht fassen. —

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Aus einem Gespräch mit Lie-Liechen: Goethe (?) sagt „Die Kirche hat einen guten Magen, ...“ Aber auch die Kunst hat einen Magen! In ihrer Gesamtheit als Summe von Kunstwerken, von Menschen, die ihr nachschaffend oder verbreitend dienen. Sie kennt daher schon wegen ihrer Lebensnotdurft keine chinesische Mauer, sie stützt sich sogar in erster Reihe auf die Teilnahme einer Klasse von Menschen, die (vgl. Schiller „Ueber das Erhabene“ 1 (?)), den Lebenssorgen entrückt, nach Maßgaben ihres Talents der Kunst sich nähern. Mag man vom höchsten Standpunkt aus auch diese Klasse für im Grunde unzuständig halten, so ist der Künstler dennoch auf sie angewiesen, wenn er sein Leben der Kunst widmen will. Ja diese Klasse verdient in einer gewissen {2859} Hinsicht sogar mehr Schätzung als die Unsumme von Musikern, die durch ihre Betriebsamkeit, ihren Eigennutz, ohne Kenntnisse falsche Bilder von den Meisterwerken verbreiten, also eine schlechte Erziehung betreiben. Schließlich kommt es dazu, daß die falschen Vorstellungen überhandnehmen u. selbst die Besten es für aussichtslos halten, den in aller Welt beglaubigten Vertretern der Kunst entgegenzutreten. Jene Klasse von reichen Menschen ist es schließlich auch, die, zu Gesellschaften vereint, die Existenz der Künstler ermöglichen, von der des Kunstwerks nicht zu sprechen. —

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Aus einem Gespräch mit Lie-Liechen: Wir leben, zurückgezogen, ausschließlich dem Werk. Unser Leben stützt sich auf Einnahmen aus der erwähnten Menschenklasse. Diese Einnahmen ermöglichen die Zurückgezogenheit. In dieser Lage bringen uns Zeitungen Ersatz für den Umgang mit Menschen. Es ist freilich ein Anderes, eine lebendige Mitteilung von Geschehnissen des Tages aus diesem oder jenem Lande zu erhalten; da wir uns aber dieses versagen müssen, so bleibt die Zeitung das einzige Mittel der Verbindung mit der Außenwelt. Der Umgang mit Menschen kann mir schon deshalb nicht einträglich sein, weil sie zu mir nur mit der Absicht kommen, etwas von mir zu erfahren, zu lernen, wo ich doch umgekehrt von ihnen etwas vom Leben draußen hören möchte. Gegenüber dieser Tatsache fällt es gar nicht mehr ins Gewicht, ob es von Wert wäre, was ich von ihnen erfahren könnte – es kommt gar nicht dazu, daß sie mir etwas bringen, da sie immer von mir etwas holen wollen. Mag man die Dinge, die die Zeitung bringen, noch so gering schätzen, sie erfrischen dennoch in Pausen der Tätigkeit den Geist, regen ihn man[n]igfach an u. machen das Gehirn sozusagen weltläufiger, verzweigter. {2859} So wie der Städter einem Dörfler durch die Vielfalt der Interessen, der Gewohnheiten, der Gebräuche überlegen ist, ähnlich wird auch ein die Welt auf u. ab [illeg]spazierendes Gehirn jenem überlegen, das sich höchstens an den Bekannten u. deren mündlichem Getratsch erholt. In beiden Fällen wird die Prägung des Gehirnes eine andere sein u. die Ueberlegenheit sogleich zutage treten, obschon nicht alles Gelesene dem Bewußtsein nicht immer gegenwärtig sein kann. —

© Transcription Marko Deisinger.

25 The day starts not disagreeably, with light fog.

— At 9:30 on the trail to Wirl, the first raindrops already after a half hour. — Into Rössle, where I can play again without disturbance; the instrument has gone back completely within just a few days. The waitress recognizes the A-major Andante by Mozart, {2857} which has recently given her pleasure, she invites me to play again soon! — I start in on sorting out the first sections of volume IV. — The rain seems to want to settle in. — From a conversation with Vrieslander: based on the power of endowment, Hölderlin was someone starting anew with himself, and as someone starting anew, he had a serious intellectual longing to return home to an epoch starting anew, such as the Greek epoch was, as long as it was rooted in cult. All developments contributed by those who came after the start, are incomprehensible and disagreeable to him, only the first red glow of the sunrise, the first connection with nature and the godly and the expression of all of these highest feelings were his essence. In later years, he may have been able to understand reality better and he ultimately even found his way back to his homeland and to the presence. But, still in madness, his initial [impulse] took hold again, his longing to return home to starting anew with himself. Those who liberally wander the many paths of literature cannot even grasp such a chaste first upward glance of intellect like this. —

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From a conversation with Lie-Liechen: Goethe (?) says "The church has a good stomach, ..." But art also has a stomach! In its entirety as the sum of works of art, of people who serve art by recreating or disseminating it. On account of its vital essence, art knows no Wall of China, it is even based first and foremost on the involvement of a class of people who (compare Schiller's "On the Sublime" 1 (?)), removed from life's worries, approach art in accordance with their talent. One may view this class from the highest standpoint as fundamentally not responsible as well, but the artist is nonetheless dependant on it if he wants to dedicate his life to art. Indeed, in a certain sense, this class is even worthy {2859} of more appreciation than the countless musicians who through their activity, their selfishness, without knowledge disseminate erroneous portrayals of the masterworks, that is, they educate poorly. The ultimate result is that the erroneous conceptions win the upper hand and even the best consider it hopeless to stand up against representatives of art recognized across the world. It is ultimately this class of wealthy people that, united into societies, makes it possible for artists to exist, not to mention art works. —

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From a conversation with Lie-Liechen: We are living, withdrawn, exclusively for the work. Our life is based on income from the class of people mentioned. This income makes withdrawal possible. In this situation, newspapers deliver a substitute for interactions with people. Of course it is different to receive live communication of the day's events from this or that country; but since we have to make do without that, the newspaper is the only means of connection to the outside world. It is impossible for me to find interaction with people rewarding just because they only come to me with the intention of experiencing something, of learning something from me, whereas, just the opposite, I would like to hear something from them about life outside. Given this fact, the question of whether what I could learn from them would be valuable is no longer of consequence – we never even get to the point where they bring me something, because they always want to draw something from me. No matter how insignificant one may find what the newspapers offer, they nonetheless refresh in the breaks in intellectual activity, stimulate the intellect in multiple ways, and make the brain so to speak broader, more finely branched. {2859} Just as a city dweller is superior to a village dweller in terms of the diversity of interests, of habits, of customs, similarly a brain that meanders up and down through the world is superior to one for which the source of renewal is, at best, acquaintances and their verbal gossip. In both cases, different impressions are made on the brain and the superiority can immediately reveal itself, even though our conscious mind cannot always recall everything we read.

© Translation Scott Witmer.

Footnotes

1 Schiller wrote two essays on the sublime: "Über das Erhabene" "Vom Erhabenen" (1794, 1796).