1. Dezember 1919
Die Bedienerin, die an Annas Stelle kommen sollte, läßt uns im Stiche, das Zimmer bleibt unaufgeräumt u. gerade an diesem Tage habe ich sSchwierigkeiten mit dem Einheizen. — Weisse erzählt, Furtwängler habe bei Spiegler über den Eindruck unseres Beisammenseins 1 gesprochen, {2184} er habe sich „wohl, angeregt gefühlt“. — In Lie-Liechens Namen lade ich Weisse zum Abendessen ein. — Uebergebe Klammerth für den Onkel Brief u. Honigglas zur Beförderung an Frl. Turner, Radstadt. — Weisse erscheint pünktlich um 7h. Lie-Liechen hat den Tisch sehr schön gedeckt u. eine reichliche Mahlzeit: Tee, Sardienen [sic], Corned Beef, 2 Käse, Butterbrot u. Obst geboten. Wir sprechen zunächst über Furtwängler, über Weisses Zukunft, bis wir auf dem Umweg über den Vortrag einiger Gedichte Goethes zum Thema: Goethe u. die Frauen gelangen; Lie-Liechen und Weisse sind darin einig, daß Goethe in diesem Punkt jene Ethik vermissen läßt, deren Wert er sonst zu schätzen wußte. Ich versuche demgegenüber darzustellen, wie zunächst alle unsere Gedanken hierüber nur hypothetischen Wert beanspruchen dürfen, weil uns Daten seines Lebens doch nicht zuverlässig bekannt sind u. in erotischen Dingen, wie man weiß, Discretion keine geringe Rolle spielt. Aber auch davon abgesehen sei Goethe aufzufassen als ein Genie mit der spezifischen Rolle der Natur, der Schöpfung u. darin dem größten wie kleinsten Wesen, Erlebnis oder Gesetz Zunge zu leihen. [in Stenografie] Was er sah, bedeutete ihm die Offenbarung eines Gesetzes, das er in seiner geheimnisvollsten Tiefe belauschte, um es zu verehren u. zu preisen. Indem er das gesetzerflossene Stück Natur oder Leben mit seiner Liebe Umf umfing, zeugte er Poesie, die den Einzelfall der Erscheinung der Ewigkeit einverleibte. Er interpretierte die Natur wie sie ist, aber nicht wie sie sein sollte – letzteres tat Schiller, der vor die Phantasie gleichsam die Ethik spannte, die der Phantasie die Richtung wies. Die Auslese, die Schiller für die Zwecke der Kunst betrieb, war vorwiegend von der Ethik beeinflußt, während Goethe {2185} auch in diesem Punkte, d. h. in der Auslese, mehr die gewaltige Art der Natur selbst wiedergab, die, über menschliche Ethik erhaben, die Zwecke ihrer Auslese auf umständlicheren aber noch sichereren u. katastrophaleren Wegen erreichte. Schließlich gebe ich der Meinung Ausdruck, daß Goethe im Falle der Friedericke [sic] mit vollem Bewußtsein u. nicht zu rechtfertigendem Mutwillen einen Streich spielte, wobei von Liebe keine Rede gewesen; dagegen sei Frau v. Stein die Frau seines Lebens gewesen, die ihn den ersten u. letzten Blick ins Paradies der echten Liebe werfen ließ; er habe darnach der Liebe eigentlich nicht mehr bedurft, daher die Frauen ohne Liebe genommen, wie er dies in seinen jüngsten Jahren getan. Falsch sei es aber zu glauben, er hätte die echte Liebe überhaupt nicht gekannt; gerade umgekehrt ist vielmehr anzunehmen, daß sein Beisammensein mit Frau v. Stein das Zentrum seines Lebens gewesen, gleichsam die zweite Geburt. —© Transcription Marko Deisinger. |
December 1, 1919
The maid who was supposed to come in Anna's place does not show, the room remains disorderly and, on top of it all, I have trouble with the heating today. — Weisse tells me that Furtwängler spoke to Spiegler about his impression of our meeting, 1 {2184} he felt "good, stimulated." — I invite Weisse to dinner on Lie-Liechen's behalf. — I give Klammerth a letter for his uncle and the jar of honey to pass on to Miss Turner, Radstadt. — Weisse comes on time at 7:00. Lie-Liechen had already set the table very nicely and laid out a generous meal: tea, sardines, corned beef, 2 cheese, buttered bread and fruit. We first talk about Furtwängler, about Weisse's future, until we indirectly, via a recital of several poems by Goethe, arrive at the topic of Goethe and women; Lie-Liechen and Weisse agree that on this issue Goethe is lacking the ethics whose value he otherwise rated highly. In contrast, I attempt to illustrate that, from the outset, all of our thoughts about this issue may only be considered to have hypothetical value because the facts about his life are not reliably known and in erotic matters, as one knows, discretion plays more than a small role. But even beyond that, Goethe must be handled as a genius with the specific role of nature, of creation, and to the greatest as to the smallest being, experience or law found in it. [in shorthand] He understood whatever he observed as the revelation of a law that he listened intently to in its most secret depths in order to honor and praise it. By surrounding the law-filled bit of nature or life with his love, he gave life to poetry, which incorporated the individual example of the phenomenon into eternity. He interpreted nature as it is, but not as it should be – Schiller did the latter, so to speak spanning ethics across fantasy, the ethic pointing the direction of fantasy. The selection process that Schiller performed in the name of art was primarily influenced by ethics, whereas in this point as well, i.e., in the selection process, Goethe {2185} relayed the mighty essence of nature itself which, rising above human ethics, achieves the purpose of its selection by more complicated but even more sure and catastrophic means. Finally, I express the opinion that in the case of Friedericke [sic] , Goethe played a prank completely knowingly and with unjustifiable wantonness, without a hint of love; in contrast, Mrs. von Stein was the woman of his life, who granted him the first and last glimpse of the paradise of true love; after that, he never needed love again, taking women without love, as he did in his earliest years. But it would be wrong to believe that he never knew true love at all; rather, just the opposite should be assumed: that his union with Mrs. von Stein was the center of his life, akin to a second birth. —© Translation Scott Witmer. |
1. Dezember 1919
Die Bedienerin, die an Annas Stelle kommen sollte, läßt uns im Stiche, das Zimmer bleibt unaufgeräumt u. gerade an diesem Tage habe ich sSchwierigkeiten mit dem Einheizen. — Weisse erzählt, Furtwängler habe bei Spiegler über den Eindruck unseres Beisammenseins 1 gesprochen, {2184} er habe sich „wohl, angeregt gefühlt“. — In Lie-Liechens Namen lade ich Weisse zum Abendessen ein. — Uebergebe Klammerth für den Onkel Brief u. Honigglas zur Beförderung an Frl. Turner, Radstadt. — Weisse erscheint pünktlich um 7h. Lie-Liechen hat den Tisch sehr schön gedeckt u. eine reichliche Mahlzeit: Tee, Sardienen [sic], Corned Beef, 2 Käse, Butterbrot u. Obst geboten. Wir sprechen zunächst über Furtwängler, über Weisses Zukunft, bis wir auf dem Umweg über den Vortrag einiger Gedichte Goethes zum Thema: Goethe u. die Frauen gelangen; Lie-Liechen und Weisse sind darin einig, daß Goethe in diesem Punkt jene Ethik vermissen läßt, deren Wert er sonst zu schätzen wußte. Ich versuche demgegenüber darzustellen, wie zunächst alle unsere Gedanken hierüber nur hypothetischen Wert beanspruchen dürfen, weil uns Daten seines Lebens doch nicht zuverlässig bekannt sind u. in erotischen Dingen, wie man weiß, Discretion keine geringe Rolle spielt. Aber auch davon abgesehen sei Goethe aufzufassen als ein Genie mit der spezifischen Rolle der Natur, der Schöpfung u. darin dem größten wie kleinsten Wesen, Erlebnis oder Gesetz Zunge zu leihen. [in Stenografie] Was er sah, bedeutete ihm die Offenbarung eines Gesetzes, das er in seiner geheimnisvollsten Tiefe belauschte, um es zu verehren u. zu preisen. Indem er das gesetzerflossene Stück Natur oder Leben mit seiner Liebe Umf umfing, zeugte er Poesie, die den Einzelfall der Erscheinung der Ewigkeit einverleibte. Er interpretierte die Natur wie sie ist, aber nicht wie sie sein sollte – letzteres tat Schiller, der vor die Phantasie gleichsam die Ethik spannte, die der Phantasie die Richtung wies. Die Auslese, die Schiller für die Zwecke der Kunst betrieb, war vorwiegend von der Ethik beeinflußt, während Goethe {2185} auch in diesem Punkte, d. h. in der Auslese, mehr die gewaltige Art der Natur selbst wiedergab, die, über menschliche Ethik erhaben, die Zwecke ihrer Auslese auf umständlicheren aber noch sichereren u. katastrophaleren Wegen erreichte. Schließlich gebe ich der Meinung Ausdruck, daß Goethe im Falle der Friedericke [sic] mit vollem Bewußtsein u. nicht zu rechtfertigendem Mutwillen einen Streich spielte, wobei von Liebe keine Rede gewesen; dagegen sei Frau v. Stein die Frau seines Lebens gewesen, die ihn den ersten u. letzten Blick ins Paradies der echten Liebe werfen ließ; er habe darnach der Liebe eigentlich nicht mehr bedurft, daher die Frauen ohne Liebe genommen, wie er dies in seinen jüngsten Jahren getan. Falsch sei es aber zu glauben, er hätte die echte Liebe überhaupt nicht gekannt; gerade umgekehrt ist vielmehr anzunehmen, daß sein Beisammensein mit Frau v. Stein das Zentrum seines Lebens gewesen, gleichsam die zweite Geburt. —© Transcription Marko Deisinger. |
December 1, 1919
The maid who was supposed to come in Anna's place does not show, the room remains disorderly and, on top of it all, I have trouble with the heating today. — Weisse tells me that Furtwängler spoke to Spiegler about his impression of our meeting, 1 {2184} he felt "good, stimulated." — I invite Weisse to dinner on Lie-Liechen's behalf. — I give Klammerth a letter for his uncle and the jar of honey to pass on to Miss Turner, Radstadt. — Weisse comes on time at 7:00. Lie-Liechen had already set the table very nicely and laid out a generous meal: tea, sardines, corned beef, 2 cheese, buttered bread and fruit. We first talk about Furtwängler, about Weisse's future, until we indirectly, via a recital of several poems by Goethe, arrive at the topic of Goethe and women; Lie-Liechen and Weisse agree that on this issue Goethe is lacking the ethics whose value he otherwise rated highly. In contrast, I attempt to illustrate that, from the outset, all of our thoughts about this issue may only be considered to have hypothetical value because the facts about his life are not reliably known and in erotic matters, as one knows, discretion plays more than a small role. But even beyond that, Goethe must be handled as a genius with the specific role of nature, of creation, and to the greatest as to the smallest being, experience or law found in it. [in shorthand] He understood whatever he observed as the revelation of a law that he listened intently to in its most secret depths in order to honor and praise it. By surrounding the law-filled bit of nature or life with his love, he gave life to poetry, which incorporated the individual example of the phenomenon into eternity. He interpreted nature as it is, but not as it should be – Schiller did the latter, so to speak spanning ethics across fantasy, the ethic pointing the direction of fantasy. The selection process that Schiller performed in the name of art was primarily influenced by ethics, whereas in this point as well, i.e., in the selection process, Goethe {2185} relayed the mighty essence of nature itself which, rising above human ethics, achieves the purpose of its selection by more complicated but even more sure and catastrophic means. Finally, I express the opinion that in the case of Friedericke [sic] , Goethe played a prank completely knowingly and with unjustifiable wantonness, without a hint of love; in contrast, Mrs. von Stein was the woman of his life, who granted him the first and last glimpse of the paradise of true love; after that, he never needed love again, taking women without love, as he did in his earliest years. But it would be wrong to believe that he never knew true love at all; rather, just the opposite should be assumed: that his union with Mrs. von Stein was the center of his life, akin to a second birth. —© Translation Scott Witmer. |
Footnotes1 The meeting had taken place on November 29, and is recorded in Schenker's diary at OJ 3/1, p. 2183. 2 Corned beef: gepökeltes Rindfleisch, i.e. ground salted beef cooked in its own juices. |