30. III. 19 Schön. Sonntag.
— Des morgens erzählt Lie-Liechen, daß sie nur die erste Hälfte der Nacht schlaflos war; sie blieb wieder zuhause u. pflegte der Ruhe, die ihr nach eigenem Geständnis sehr gut bekäme. — An Lendvay (K.): danke für Partitur u. Karte; auf den ersten Blick bekunde letztere [sic] die Zugehörigkeit zur kultivierten Musik, verspräche später darauf zurückkommen zu wollen bis die Verhältnisse sich gebessert haben; gebe schließlich Auskunft über meine Arbeiten. — An Dahms (K.): Kräftigung der Nerven deutlich zu erkennen, die Ferne von der Großstadt habe sie bewirkt; Großstadt = Masse, diese sei aber immer tötlich [sic]; ihre Polypenarme langen zuerst nach dem Kopf, hängt sich also selbst auf. So manchen Tieren wachsen Schwänzchen allerdings nach, niemals aber der Kopf, daher Gebot, vom Kopf so viel als möglich zu retten! Das Betrübliche, daß auf dem ganzen Erdball kein einziges Genie in Sicht, das Rat u. Hilfe wüßte! Esel liegen einander in den Haaren, der größte der Esel spiele sich auf den Tiger aus . . . — An Steglich (K.): komme nach zwei Jahren erst heute dazu, ein paar Worte über seinen Sonderabdruck Em. Bach 1 zu sagen: Weniger Riemann, was immer gleichbedeutend ist mit mehr Bach – Riemann wisse nichts von jener eigentümlichen Geschlechtsdrüse kompositorischer Zeugung, daher der Ersatz-Charakter seiner Theoreme, die er übrigens wechselt – siehe die letzten Auslassungen. — An Moosbacher (K.): danke für Erinnerung; würde mich freuen, ihm hier oder in Tirol Tirol Tirol vorspielen zu können; Auskunft über die letzten Arbeiten. — An Oppel (K.): danke für Brief, bedauere, ihn nicht bei mir sehen zu können; entlarve den Sieg der Entente als einen unechten, der eben daher von einem raschen Frieden nicht gefolgt werden konnte. Die traurigen Sieger haben alle Ursache, monatelang ihren {2049} „Sieg“ der Welt einzuhämmern; Marke: angelsächsisches Apachentum, französische Phrasen-Syphilis, 2 die am Menschheitsmark seit Jahrhunderten fressen. Jeder Tag richte aber auch den Verrat der Marx-Bekenner u. Westler! So gehe alles um die Rettung der Musik, die das höchste Wahrzeichen wirklich schöpferischer Veranlagung ist. Schließlich: daß ich eventuell nach Deutschland übersiedle, wenn der Anschluß nicht zustande käme. — Im „N. W. Tgbl.“ Mitteilung von dem Forschungsergebnis eines Herrn Prof. Kestner, Hamburg: „Satt ist man, so lange der Magen beschäftigt ist, daher der Vorzug von Fleisch, Kartoffeln, die im Magen lange liegen bleiben“ 3 – Ansichten, die ich Lie-Liechen seit Jahren vortrage, ohne daß sie dafür Verständnis gezeigt hätte. — An Karpath (K.): danke für die Mühe u. Mitteilung; Mittelmann wiederholt im Brief die Taktlosigkeit. — An Paul (Br.): ersuche ihn, einen Vertrauensmann zu uns zu schicken. — An Frau Bednař (K.): Lie-Liechen krank, hätte sonst gern dem Alten für Aufmerksamkeit gedankt. —© Transcription Marko Deisinger. |
March 30, 1919 Nice. Sunday.
— In the morning, Lie-Liechen tells me that she lay awake only the first half of the night; she stayed home again to rest, which she admits helps her a lot. — To Lendvay (postcard): thanks for the score and the postcard; at first glance, the latter [sic] indicates an appreciation for cultivated music, promise to want to return to it later when the situation has improved; finally, tell him about my work. — To Dahms (postcard): nerves are noticeably stronger, the distance from the metropolis is the reason; metropolis = crowd, but this is always deadly; its tentacles first reach for the head, and thus hangs itself. However, the tails of some animals grow back, but never the head, and thus the imperative to save as much of the head as possible! How deplorable, that there is not a single genius in sight on the entire planet who can offer advice and help! Mules are always at odds with each other, and the biggest mule plays himself off on the tiger [?] . . . — To Steglich (postcard): today, after two years, I am finally getting around to writing a few words about his special print of Emanuel Bach: 1 Less Riemann, which can always be equated with more Bach – Riemann knows nothing of that peculiar sexual gland of compositional procreation, which explains the substitutional character of his theorems, which he incidentally changes – see the last omissions. — To Moosbacher (postcard): thanks for the reminder; would be pleased to have the opportunity to play for him here or in Tirol Tirol Tirol; tell him about my last works. — To Oppel (postcard): thanks for the letter, regret not to be able to see him in my apartment; reveal the victory of the entente as not real, and therefore one which cannot be followed quickly by peace. The sad victors are making every effort to hammer home their {2049} "victory" to the world; trademark: Anglo-Saxon Apacheness, French phrase syphilis 2 that have been gnawing on the marrow of humanity for centuries. But every day also judges the betrayal of the followers of Marx and the Westerners! Thus it is all focused on saving music, the highest emblem of creative temperament. Finally, that I may move to Germany, if the annexation does not come about. — In Neues Wiener Tagblatt report on the research findings of a certain Professor Kestner, Hamburg: "You are full as long as the stomach is busy, so it is preferable to eat meat and potatoes that sit in the stomach a long time" 3 – opinions that I have been postulating to Lie-Liechen for years without her showing any understanding. — To Karpath (postcard): thanks for the effort and the communication; Mittelmann repeats the tactlessness in his letter. — To Paul (letter): ask him to send us a confidant. — To Mrs. Bednař (postcard): Lie-Liechen ill, would have otherwise gladly thanked the old man for the attention. —© Translation Scott Witmer. |
30. III. 19 Schön. Sonntag.
— Des morgens erzählt Lie-Liechen, daß sie nur die erste Hälfte der Nacht schlaflos war; sie blieb wieder zuhause u. pflegte der Ruhe, die ihr nach eigenem Geständnis sehr gut bekäme. — An Lendvay (K.): danke für Partitur u. Karte; auf den ersten Blick bekunde letztere [sic] die Zugehörigkeit zur kultivierten Musik, verspräche später darauf zurückkommen zu wollen bis die Verhältnisse sich gebessert haben; gebe schließlich Auskunft über meine Arbeiten. — An Dahms (K.): Kräftigung der Nerven deutlich zu erkennen, die Ferne von der Großstadt habe sie bewirkt; Großstadt = Masse, diese sei aber immer tötlich [sic]; ihre Polypenarme langen zuerst nach dem Kopf, hängt sich also selbst auf. So manchen Tieren wachsen Schwänzchen allerdings nach, niemals aber der Kopf, daher Gebot, vom Kopf so viel als möglich zu retten! Das Betrübliche, daß auf dem ganzen Erdball kein einziges Genie in Sicht, das Rat u. Hilfe wüßte! Esel liegen einander in den Haaren, der größte der Esel spiele sich auf den Tiger aus . . . — An Steglich (K.): komme nach zwei Jahren erst heute dazu, ein paar Worte über seinen Sonderabdruck Em. Bach 1 zu sagen: Weniger Riemann, was immer gleichbedeutend ist mit mehr Bach – Riemann wisse nichts von jener eigentümlichen Geschlechtsdrüse kompositorischer Zeugung, daher der Ersatz-Charakter seiner Theoreme, die er übrigens wechselt – siehe die letzten Auslassungen. — An Moosbacher (K.): danke für Erinnerung; würde mich freuen, ihm hier oder in Tirol Tirol Tirol vorspielen zu können; Auskunft über die letzten Arbeiten. — An Oppel (K.): danke für Brief, bedauere, ihn nicht bei mir sehen zu können; entlarve den Sieg der Entente als einen unechten, der eben daher von einem raschen Frieden nicht gefolgt werden konnte. Die traurigen Sieger haben alle Ursache, monatelang ihren {2049} „Sieg“ der Welt einzuhämmern; Marke: angelsächsisches Apachentum, französische Phrasen-Syphilis, 2 die am Menschheitsmark seit Jahrhunderten fressen. Jeder Tag richte aber auch den Verrat der Marx-Bekenner u. Westler! So gehe alles um die Rettung der Musik, die das höchste Wahrzeichen wirklich schöpferischer Veranlagung ist. Schließlich: daß ich eventuell nach Deutschland übersiedle, wenn der Anschluß nicht zustande käme. — Im „N. W. Tgbl.“ Mitteilung von dem Forschungsergebnis eines Herrn Prof. Kestner, Hamburg: „Satt ist man, so lange der Magen beschäftigt ist, daher der Vorzug von Fleisch, Kartoffeln, die im Magen lange liegen bleiben“ 3 – Ansichten, die ich Lie-Liechen seit Jahren vortrage, ohne daß sie dafür Verständnis gezeigt hätte. — An Karpath (K.): danke für die Mühe u. Mitteilung; Mittelmann wiederholt im Brief die Taktlosigkeit. — An Paul (Br.): ersuche ihn, einen Vertrauensmann zu uns zu schicken. — An Frau Bednař (K.): Lie-Liechen krank, hätte sonst gern dem Alten für Aufmerksamkeit gedankt. —© Transcription Marko Deisinger. |
March 30, 1919 Nice. Sunday.
— In the morning, Lie-Liechen tells me that she lay awake only the first half of the night; she stayed home again to rest, which she admits helps her a lot. — To Lendvay (postcard): thanks for the score and the postcard; at first glance, the latter [sic] indicates an appreciation for cultivated music, promise to want to return to it later when the situation has improved; finally, tell him about my work. — To Dahms (postcard): nerves are noticeably stronger, the distance from the metropolis is the reason; metropolis = crowd, but this is always deadly; its tentacles first reach for the head, and thus hangs itself. However, the tails of some animals grow back, but never the head, and thus the imperative to save as much of the head as possible! How deplorable, that there is not a single genius in sight on the entire planet who can offer advice and help! Mules are always at odds with each other, and the biggest mule plays himself off on the tiger [?] . . . — To Steglich (postcard): today, after two years, I am finally getting around to writing a few words about his special print of Emanuel Bach: 1 Less Riemann, which can always be equated with more Bach – Riemann knows nothing of that peculiar sexual gland of compositional procreation, which explains the substitutional character of his theorems, which he incidentally changes – see the last omissions. — To Moosbacher (postcard): thanks for the reminder; would be pleased to have the opportunity to play for him here or in Tirol Tirol Tirol; tell him about my last works. — To Oppel (postcard): thanks for the letter, regret not to be able to see him in my apartment; reveal the victory of the entente as not real, and therefore one which cannot be followed quickly by peace. The sad victors are making every effort to hammer home their {2049} "victory" to the world; trademark: Anglo-Saxon Apacheness, French phrase syphilis 2 that have been gnawing on the marrow of humanity for centuries. But every day also judges the betrayal of the followers of Marx and the Westerners! Thus it is all focused on saving music, the highest emblem of creative temperament. Finally, that I may move to Germany, if the annexation does not come about. — In Neues Wiener Tagblatt report on the research findings of a certain Professor Kestner, Hamburg: "You are full as long as the stomach is busy, so it is preferable to eat meat and potatoes that sit in the stomach a long time" 3 – opinions that I have been postulating to Lie-Liechen for years without her showing any understanding. — To Karpath (postcard): thanks for the effort and the communication; Mittelmann repeats the tactlessness in his letter. — To Paul (letter): ask him to send us a confidant. — To Mrs. Bednař (postcard): Lie-Liechen ill, would have otherwise gladly thanked the old man for the attention. —© Translation Scott Witmer. |
Footnotes1 Rudolf Steglich, "C. Ph. E. Bach und der Dresdner Kreuzkantor G. A. Homilius," Bach-Jahrbuch, 12th year, 1915, pp. 139–141; see Hellmut Federhofer, Heinrich Schenker nach Tagebüchern und Briefen … (Hildesheim: Georg Olms, 1985), pp. 211–212. 2 Schenker is here prefiguring the language of his article "Die Sendung des deutschen Genies," Der Tonwille Heft 1 (1921), pp. 3–21 (Eng. trans., vol. I, pp. 3-20). 3 "Ich bin immer hungrig.’ Die Erklärung durch die Wissenschaft," by h. g., Neues Wiener Tagblatt , No. 88, March 30, 1919, 53rd year, p. 8. |