10. II. 1918 +2°, schön, Frühlingstag!

— Vom Bankverein Verwaltungsgebühr für 1918 mit 15 Kronen berechnet. — Von Mittelmann (K.): gibt mir die Methode der Berechnung der Jahrzeiten an. — Von 10¼h Spaziergang. — Bahr im „N. W. J.“ preist die geistige Richtung der Juden; 1 er hat mehr Recht, als er ahnt: Es ist das eben die Wirkung der heiligen Bücher, daß sie die ganze Rasse, als wäre sie auch noch als Ganzes noch ortodox [sic] geblieben, vergeistigt; diese Wirkung ist stärker, als alle Ideologie des Christentums – wie die Wirklichkeit zeigt. — Auf dem Wege wurde ich von Frl. Schereschewsky u. zwar wegen Mittelmann angesprochen; von ihr erfahre ich, daß Redlich u. sie den einen Weg zum Bankdirektor suchen, daß Brünauer beauftragt war, seine Adresse bei mir zu erfragen u. ihr zu telephonieren, was er aber selbstverständlich zu tun versäumt hat. Sie erkundigt sich nach Mittelmann Eignung für das Bankgeschäft, worauf ich, um sie u. ihresgleichen zu treffen, sage: Ist der Direktor fähig, dann wird er Mittelmann Fähigkeiten auszunutzen verstehen, wo nicht, wird er gegenüber dem letzteren durchfallen. — Bei Lie-Liechen erregt es böses Blut, daß das Frl. Sch. sie nicht grüßt; dabei es ist ihr aber entgangen, daß das ungezogene Fräulein sich ja ebenso ungesellschaftlich auch wider ihre eigenen Weggenossin benommen hat, indem sie diese einfach stehen ließ, wie schließlich auch dieses, daß sie Liel. sich entfernte u. somit keine Gelegenheit gegeben war, den Fall auszutragen. Im übrigen wäre ja , meinte ich, das Frl. Sch. zu erziehen keine Aufgabe für mich, umso weniger, als mir auch die Möglichkeit fehlt, dauernd erzieherisch auf sie einzuwirken. Die Empfindlichkeit Lie-Liechens steht da also ganz außer Verhältnis zu der Veranlassung. — Nach dem Caféhaus Spaziergang ins Belvedere bei schönster Frühlingssonne. — Mittelmann um die Jausestunde bei Lie-Liechen; bringt Mitteilung über die bevorstehende Einladung des Bankdirektors u. bietet mir drei Zigarren, die ihm geschenkt worden sind. — Abends 8h +8°. {840}

© Transcription Marko Deisinger.

February 10, 1918 +2°, beautiful, a Spring day!

— The Bankverein charges an administrative fee of 15 Kronen for 1918. — From Mittelmann (postcard): provides me with a method for calculating the anniversaries of death. — From 10:15 on, a stroll. — Bahr in the Neues Wiener Journal has praised the spiritual direction the Jews have been going in; 1 he is more right than he imagines: it is actually about the effect of the Holy Scriptures, which makes the entire [Jewish] race spiritually minded, as if it had remained even now orthodox in its entirety; this effect is stronger than the entire ideology of Christianity – as reality shows. — Along the way I am addressed by Miss Schereschevsky in fact about Mittelmann I gather from her that Redlich and she have sought the a way to reach the bank director, that Brünauer has been commissioned to ask me personally for his address, and to communicate this to her by telephone, which he has nevertheless naturally neglected to do. She inquires about Mittelmann's aptitude for the banking business, to which I retort, in order to confront her and her sort: If the director is capable, then he will understand how to use Mittlemann's abilities to the full, and if not, he will disgrace himself in the eyes of the latter. — There is bad blood with Lie-Liechen because Miss Schereschewsky does not say hello to her; in this case it has escaped her notice that this unmannered young lady also behaves in the same antisocial way towards her own companion, inasmuch as she simply left her this person standing. Finally she Liel. withdrew, so that there was no opportunity was for this state of affairs to continue. But at any rate, I think, it is not the case that Miss Schereschewsky's upbringing is my responsibility, all the less so, since I have no opportunity to have any lasting educative effect upon her. So Lie-Liechen's sensitivity bears no relation whatsoever to the situation. — After the coffee-house, a walk to the Belvedere in the loveliest Spring sun. — Mittelmann present at tea time at Lie-Liechen's, brings news of the forthcoming invitation from the bank director, offers me three cigars, which have been given to him as a gift. — Evening 8h +8°. {840}

© Translation Stephen Ferguson.

10. II. 1918 +2°, schön, Frühlingstag!

— Vom Bankverein Verwaltungsgebühr für 1918 mit 15 Kronen berechnet. — Von Mittelmann (K.): gibt mir die Methode der Berechnung der Jahrzeiten an. — Von 10¼h Spaziergang. — Bahr im „N. W. J.“ preist die geistige Richtung der Juden; 1 er hat mehr Recht, als er ahnt: Es ist das eben die Wirkung der heiligen Bücher, daß sie die ganze Rasse, als wäre sie auch noch als Ganzes noch ortodox [sic] geblieben, vergeistigt; diese Wirkung ist stärker, als alle Ideologie des Christentums – wie die Wirklichkeit zeigt. — Auf dem Wege wurde ich von Frl. Schereschewsky u. zwar wegen Mittelmann angesprochen; von ihr erfahre ich, daß Redlich u. sie den einen Weg zum Bankdirektor suchen, daß Brünauer beauftragt war, seine Adresse bei mir zu erfragen u. ihr zu telephonieren, was er aber selbstverständlich zu tun versäumt hat. Sie erkundigt sich nach Mittelmann Eignung für das Bankgeschäft, worauf ich, um sie u. ihresgleichen zu treffen, sage: Ist der Direktor fähig, dann wird er Mittelmann Fähigkeiten auszunutzen verstehen, wo nicht, wird er gegenüber dem letzteren durchfallen. — Bei Lie-Liechen erregt es böses Blut, daß das Frl. Sch. sie nicht grüßt; dabei es ist ihr aber entgangen, daß das ungezogene Fräulein sich ja ebenso ungesellschaftlich auch wider ihre eigenen Weggenossin benommen hat, indem sie diese einfach stehen ließ, wie schließlich auch dieses, daß sie Liel. sich entfernte u. somit keine Gelegenheit gegeben war, den Fall auszutragen. Im übrigen wäre ja , meinte ich, das Frl. Sch. zu erziehen keine Aufgabe für mich, umso weniger, als mir auch die Möglichkeit fehlt, dauernd erzieherisch auf sie einzuwirken. Die Empfindlichkeit Lie-Liechens steht da also ganz außer Verhältnis zu der Veranlassung. — Nach dem Caféhaus Spaziergang ins Belvedere bei schönster Frühlingssonne. — Mittelmann um die Jausestunde bei Lie-Liechen; bringt Mitteilung über die bevorstehende Einladung des Bankdirektors u. bietet mir drei Zigarren, die ihm geschenkt worden sind. — Abends 8h +8°. {840}

© Transcription Marko Deisinger.

February 10, 1918 +2°, beautiful, a Spring day!

— The Bankverein charges an administrative fee of 15 Kronen for 1918. — From Mittelmann (postcard): provides me with a method for calculating the anniversaries of death. — From 10:15 on, a stroll. — Bahr in the Neues Wiener Journal has praised the spiritual direction the Jews have been going in; 1 he is more right than he imagines: it is actually about the effect of the Holy Scriptures, which makes the entire [Jewish] race spiritually minded, as if it had remained even now orthodox in its entirety; this effect is stronger than the entire ideology of Christianity – as reality shows. — Along the way I am addressed by Miss Schereschevsky in fact about Mittelmann I gather from her that Redlich and she have sought the a way to reach the bank director, that Brünauer has been commissioned to ask me personally for his address, and to communicate this to her by telephone, which he has nevertheless naturally neglected to do. She inquires about Mittelmann's aptitude for the banking business, to which I retort, in order to confront her and her sort: If the director is capable, then he will understand how to use Mittlemann's abilities to the full, and if not, he will disgrace himself in the eyes of the latter. — There is bad blood with Lie-Liechen because Miss Schereschewsky does not say hello to her; in this case it has escaped her notice that this unmannered young lady also behaves in the same antisocial way towards her own companion, inasmuch as she simply left her this person standing. Finally she Liel. withdrew, so that there was no opportunity was for this state of affairs to continue. But at any rate, I think, it is not the case that Miss Schereschewsky's upbringing is my responsibility, all the less so, since I have no opportunity to have any lasting educative effect upon her. So Lie-Liechen's sensitivity bears no relation whatsoever to the situation. — After the coffee-house, a walk to the Belvedere in the loveliest Spring sun. — Mittelmann present at tea time at Lie-Liechen's, brings news of the forthcoming invitation from the bank director, offers me three cigars, which have been given to him as a gift. — Evening 8h +8°. {840}

© Translation Stephen Ferguson.

Footnotes

1 "Tagebuch. Von Hermann Bahr," in: Neues Wiener Journal , No. 8719, February 10, 1918, 26th year, p. 5.