1. September 1917 Morgens Regen, dann aber schön.

— Von Gärtner (K.): dankt für Nachfrage, Hans zufällig zuhause. — Von Fl. (K.): geht am 5. IX. ins Sanatorium Purkersdorf, gibt Zimmernummer an u. erklärt sich bereit ins Caféhaus zu kommen; leidet angeblich an der Lunge. —

— 9–¾12h nach Leutasch bei schöner Sonne, die aber nicht mehr so heiß brennt. Auf einem Wiesenabhang springt uns plötzlich ein wundervolles Bild in die Augen: ein mit Reisig beladener, blau angestrichener Wagen, davor zwei weiße Kühe gespannt, geführt von einem Bauer mit pechschwarzem Haar, grünem Hütchen u. rotem Wams, dem ein ähnlich gekleideter Bursche wie auch eine Frau mit Kind zur Seite stehen, ebenfalls mit rotem Wams. Diese Farben 1 standen nun im Schatten, der mit seinem köstlichen Farbeninhalt ganz sonderbar von der grellen Sonne ringsum abstach. Für den Bauer u. seine Familie war derselbe Augenblick, in dem wir das Farbenbild abzogen, ein Moment der Not, da er mit den Kühen viel Mühe hatte, die nicht vorwärts kamen. Uns dauerten die armen Tiere, die, wie gegenwärtig unter den Menschen die Frauen, eine [recte ein] gar doppelt sSchweres Arbeit zu leisten haben: als Lasttiere u. als Milchquelle! Hie u. da sind noch wieder Frühlingsblumen, Sternblumen, Anemonen zu sehen. Eine wehmütige Stimmung zieht aber gleichwohl durch die ganze Natur; mit abnehmender Natur nimmt gleichsam auch der Mensch mit ab, der ja deren Assoziation vorstellt. {760} Daher meidet es der Mensch, einer sterbenden Natur die Augen zuzudrücken u. sucht Zuflucht lieber wieder bei Sseinesgleichen, dort, wo die Menschen vereint das Sterbelager der Natur gleichsam aus ihren Blicken verlieren. Es fällt uns auf, daß die Leutascher noch sämtlich Trachten tragen, besonders die roten Wämschen, u. ihre Wagen blau anstreichen. — ½5–6h im Walde zu Lie-Liechens Arbeit Bibel lesend, Buch II bis Kap. 6. — An Dodi (Br.): Lie-Liechen teilt den Tag d ieer Abreise mit, die Angst vor den Wiener Wucherern (belegt mit einem Speisetarif aus dem Gasthof „grauer Bär“ in Innsbruck) u. bittet bis zum 12. IX. um die erste Hilfe; wiederholt die Mitteilung von der Vollendung des II2! — An Fl. (K.): wir dürften ihn in Wien nicht mehr antreffen, we eürden uns aber Mühe geben, ihn so bald als möglich zu sehen. — Nach dem Abendessen mit Weilen in den Gasthof Stern, wo wir je zwei Flaschen Bier trinken; ein Gespräch kann bei dieses Herrn Beschaffenheit leider nicht aufkommen, doppelt erfreulich war es daher, daß zumindest die Brüder Wanner mit Musik herausrückten. Der Zitherspieler hielt sich sehr tapfer, rhythmisch u. feurig, die Guitarristen hatten offenbar keinerlei Schulung – dennoch sagte uns dieses kleine Kapitel von Märschen u. Ländlern mehr zu als die Ehre das leere Beisammensein mit dem Professor. —

© Transcription Marko Deisinger.

September 1, 1917. Rain in the morning, then fair weather.

— Postcard from Gärtner : he thanks me for my enquiry; by chance, Hans is at home. — Postcard from Floriz : he is going to the Purkersdorf Sanatorium, gives me his room number, and says that he is ready to come to the coffee house; apparently he has a lung ailment. —

— From 9 o'clock to 11:45 to Leutasch in beautiful sunshine which, however, is no longer so intensely hot. A wonderful sight catches our eyes on a sloping meadow: a blue painted wagon filled with brushwood, with two white cows harnessed in front, driven by a farmer with pitch-black hair, a little green hat, and a red vest. These colors 1 now stood in the shade which, with its precious color content, stood in stark contrast with the glaring sun around it. For the farmer and his family, the same moment in which we captured the image of color was a moment of difficulty, as he had a great deal of trouble getting the cows to move forwards. We felt sorry for the poor animals who, like women among humans, have to work twice as hard: as beasts of burden and as a source of milk! Here and there spring flowers, asters, anemones were to be seen. Nonetheless a wistful atmosphere covers the entire landscape; with a decline of nature there comes also a kind of decline in people who enter into a relationship with it. {760} For this reason people turn a blind eye to a dying natural environment and prefer to seek refuge in their own kind, where together they can, as it were, banish the sight of nature's deathbed. We notice that the people of Leutasch all still wear traditional dress, especially red vests, and that they paint their wagons blue. — From 4:30 to 6 o'clock, in the forest, reading book 2 in the Bible as far as chapter 6 while Lie-Liechen works. — Letter to Dodi: Lie-Liechen informs her of the day of our departure and our fear of the Viennese profiteers (as demonstrated by the price list at the restaurant Grauer Bär in Innsbruck), and asks for first aid until September 12; she repeats the news that Counterpoint 2 is finished! — Postcard to Floriz: we may no longer see him when we get to Vienna but will make every effort to see him as soon as possible. — After supper, Weilen in the restaurant Stern, where we each drink two bottles of beer. The nature of this gentleman makes it, unfortunately, impossible for a conversation to arise; it was therefore doubly agreeable that at least the Wanner brothers offered some music. The zither player persisted very bravely, rhythmically and with fire; the guitarists were apparently without any training – and yet this little chapter of fairy tales and ländler meant more to us than the empty company of the "professor."

© Translation William Drabkin.

1. September 1917 Morgens Regen, dann aber schön.

— Von Gärtner (K.): dankt für Nachfrage, Hans zufällig zuhause. — Von Fl. (K.): geht am 5. IX. ins Sanatorium Purkersdorf, gibt Zimmernummer an u. erklärt sich bereit ins Caféhaus zu kommen; leidet angeblich an der Lunge. —

— 9–¾12h nach Leutasch bei schöner Sonne, die aber nicht mehr so heiß brennt. Auf einem Wiesenabhang springt uns plötzlich ein wundervolles Bild in die Augen: ein mit Reisig beladener, blau angestrichener Wagen, davor zwei weiße Kühe gespannt, geführt von einem Bauer mit pechschwarzem Haar, grünem Hütchen u. rotem Wams, dem ein ähnlich gekleideter Bursche wie auch eine Frau mit Kind zur Seite stehen, ebenfalls mit rotem Wams. Diese Farben 1 standen nun im Schatten, der mit seinem köstlichen Farbeninhalt ganz sonderbar von der grellen Sonne ringsum abstach. Für den Bauer u. seine Familie war derselbe Augenblick, in dem wir das Farbenbild abzogen, ein Moment der Not, da er mit den Kühen viel Mühe hatte, die nicht vorwärts kamen. Uns dauerten die armen Tiere, die, wie gegenwärtig unter den Menschen die Frauen, eine [recte ein] gar doppelt sSchweres Arbeit zu leisten haben: als Lasttiere u. als Milchquelle! Hie u. da sind noch wieder Frühlingsblumen, Sternblumen, Anemonen zu sehen. Eine wehmütige Stimmung zieht aber gleichwohl durch die ganze Natur; mit abnehmender Natur nimmt gleichsam auch der Mensch mit ab, der ja deren Assoziation vorstellt. {760} Daher meidet es der Mensch, einer sterbenden Natur die Augen zuzudrücken u. sucht Zuflucht lieber wieder bei Sseinesgleichen, dort, wo die Menschen vereint das Sterbelager der Natur gleichsam aus ihren Blicken verlieren. Es fällt uns auf, daß die Leutascher noch sämtlich Trachten tragen, besonders die roten Wämschen, u. ihre Wagen blau anstreichen. — ½5–6h im Walde zu Lie-Liechens Arbeit Bibel lesend, Buch II bis Kap. 6. — An Dodi (Br.): Lie-Liechen teilt den Tag d ieer Abreise mit, die Angst vor den Wiener Wucherern (belegt mit einem Speisetarif aus dem Gasthof „grauer Bär“ in Innsbruck) u. bittet bis zum 12. IX. um die erste Hilfe; wiederholt die Mitteilung von der Vollendung des II2! — An Fl. (K.): wir dürften ihn in Wien nicht mehr antreffen, we eürden uns aber Mühe geben, ihn so bald als möglich zu sehen. — Nach dem Abendessen mit Weilen in den Gasthof Stern, wo wir je zwei Flaschen Bier trinken; ein Gespräch kann bei dieses Herrn Beschaffenheit leider nicht aufkommen, doppelt erfreulich war es daher, daß zumindest die Brüder Wanner mit Musik herausrückten. Der Zitherspieler hielt sich sehr tapfer, rhythmisch u. feurig, die Guitarristen hatten offenbar keinerlei Schulung – dennoch sagte uns dieses kleine Kapitel von Märschen u. Ländlern mehr zu als die Ehre das leere Beisammensein mit dem Professor. —

© Transcription Marko Deisinger.

September 1, 1917. Rain in the morning, then fair weather.

— Postcard from Gärtner : he thanks me for my enquiry; by chance, Hans is at home. — Postcard from Floriz : he is going to the Purkersdorf Sanatorium, gives me his room number, and says that he is ready to come to the coffee house; apparently he has a lung ailment. —

— From 9 o'clock to 11:45 to Leutasch in beautiful sunshine which, however, is no longer so intensely hot. A wonderful sight catches our eyes on a sloping meadow: a blue painted wagon filled with brushwood, with two white cows harnessed in front, driven by a farmer with pitch-black hair, a little green hat, and a red vest. These colors 1 now stood in the shade which, with its precious color content, stood in stark contrast with the glaring sun around it. For the farmer and his family, the same moment in which we captured the image of color was a moment of difficulty, as he had a great deal of trouble getting the cows to move forwards. We felt sorry for the poor animals who, like women among humans, have to work twice as hard: as beasts of burden and as a source of milk! Here and there spring flowers, asters, anemones were to be seen. Nonetheless a wistful atmosphere covers the entire landscape; with a decline of nature there comes also a kind of decline in people who enter into a relationship with it. {760} For this reason people turn a blind eye to a dying natural environment and prefer to seek refuge in their own kind, where together they can, as it were, banish the sight of nature's deathbed. We notice that the people of Leutasch all still wear traditional dress, especially red vests, and that they paint their wagons blue. — From 4:30 to 6 o'clock, in the forest, reading book 2 in the Bible as far as chapter 6 while Lie-Liechen works. — Letter to Dodi: Lie-Liechen informs her of the day of our departure and our fear of the Viennese profiteers (as demonstrated by the price list at the restaurant Grauer Bär in Innsbruck), and asks for first aid until September 12; she repeats the news that Counterpoint 2 is finished! — Postcard to Floriz: we may no longer see him when we get to Vienna but will make every effort to see him as soon as possible. — After supper, Weilen in the restaurant Stern, where we each drink two bottles of beer. The nature of this gentleman makes it, unfortunately, impossible for a conversation to arise; it was therefore doubly agreeable that at least the Wanner brothers offered some music. The zither player persisted very bravely, rhythmically and with fire; the guitarists were apparently without any training – and yet this little chapter of fairy tales and ländler meant more to us than the empty company of the "professor."

© Translation William Drabkin.

Footnotes

1 A small question-mark above the word "Farben."