1. März 1917 +1½°, Schneefall, dann schön.
— Von Vrieslander (Br.): verschiedene Fragen, die seine Arbeit betreffen. — {610} An Deetjen (K.): nenne noch als eventuell ihm unbekannt die 2. Aufl. der Ornamentik, Niloff u. erwähne noch verschiedene andere Pläne. — An Paul (K.): neuerliche Anfrage nach seinem Befinden. — Von Sophie Butter u. Brief, überbracht durch den Sohn des Dr. Moses Schenker ; der Brief schildert die neuen Verhältnisse wesentlich verschlechtert. — Das deutsche Lustspiel: Die Deutschen Be beklagen den Mangel an einem nationalen Lustspiel. Offenbar doch nur ein Mißverständnis der Gattung überhaupt. Vergleicht man deutsche mit französischen Lustspielen, so findet man alsbald, daß sich die letzteren nicht so sehr durch die eine, wie man allgemein glaubt, bessere Technik, sondern durch eine mehr minder fein verhüllte u. am häufigsten sogar unverhüllte brenzliche Erotik unterscheiden. Es liegt also nur an der französischen Art[,] das Sexuelle als solches stark hervorzuheben, wenn die französischen Lustspiele sowohl in Frankreich als in der ganzen Welt Anklang u. Begeisterung finden. (Wo wäre denn die erotische Sphäre unwirksam?) Dagegen ist es deutsche Art nicht, die Erotik in ebensolcher Weise unzüchtig bloßzustellen; eine Art von Scham zügelt den deutschen Lustspieldichtern die Feder, ausgenommen die Fälle, wo sich der Schriftsteller dem Erfolg zuliebe pervertiert oder, was noch schlimmer, um dem Drange der Kritik nachzugeben nachgibt, die die nationalen Unterschiede außeracht läßt lassend, das französische Lustspiel als Vorbild auch den Deutschen aufdrängt. Mir scheinen jedoch die Grenzen der nationalen Charaktere für immer festgelegt. Minna von Barnhelm 1 wird wohl niemals auf die Franzosen wirken können, dazu ist die Erotik des Fräulein Minna viel zu züchtig, wie auch die Ehrenhaftigkeit des Majors, sofern die erotische Sphäre in Betracht kommt, übertrieben. Dagegen werden wegen ihres pornographischen Beigeschmacks umgekehrt die französischen Lustspiele immer auch auf Deutsche gut wirken können. So wäre denn nur schließlich eine reinliche Scheidung der Charaktere erwünscht festzustellen, die allein es möglich machen würde, daß Deutsche ihre Lustspiele eben nur in ihrer Art, die Franzosen dann wieder in ihrer Art schr eiieben. {611} —© Transcription Marko Deisinger. |
March 1, 1917. +1½°, snowfall, then fair weather.
— Letter from Vrieslander : various questions concerning his work. — {610} Postcard to Deetjen : I name the second edition of Ornamentation , and Niloff as [works of mine] possibly still unknown to him, and mention in addition various other plans. — Postcard to Paul : new enquiry regarding his health. — From Sophie, butter and a letter, conveyed by the son of Dr. Moses Schenker ; the letter describes her new circumstances as considerably worsened. — German comedy: the Germans lament the lack of a national comedy. Evidently, however, only a misunderstanding of the genre in general. If one compares German and French comedies, then one discovers straightaway that the latter is not distinguished so much by a better technique, as is generally believed, but by a more or less carefully concealed, in fact more often unconcealed, precarious eroticism. This has merely do to with the French way placing great emphasis on the sexual element as such, if the French comedies are to find appeal and enthusiasm not only in France but also in the wider world. (For where is the erotic sphere without effect?) By contrast, it is not the German way to unmask eroticism in the same lewd way; a kind of shame tempers the pens of German comic playwrights, except in those cases where the writer is corrupted by the desire for success or, worse still, when he gives in to the critical judgment which, ignoring national differences, imposes French comedy as a model even on the Germans. For me, however, the boundaries between national characters are set in stone. Minna von Barnhelm 1 will surely never make an impression on the French: for this the innocence of Minna's eroticism is far too pronounced, as is the worthiness of the Major, insofar as the erotic sphere is concerned. By contrast, the French comedies will always make a good impression on Germans on account of their pornographic flavor. Thus in the end one only needs to determine a neat character distinction which, on its own, would enable the Germans to write comedies in their own way and French for their part in theirs. {611} —© Translation William Drabkin. |
1. März 1917 +1½°, Schneefall, dann schön.
— Von Vrieslander (Br.): verschiedene Fragen, die seine Arbeit betreffen. — {610} An Deetjen (K.): nenne noch als eventuell ihm unbekannt die 2. Aufl. der Ornamentik, Niloff u. erwähne noch verschiedene andere Pläne. — An Paul (K.): neuerliche Anfrage nach seinem Befinden. — Von Sophie Butter u. Brief, überbracht durch den Sohn des Dr. Moses Schenker ; der Brief schildert die neuen Verhältnisse wesentlich verschlechtert. — Das deutsche Lustspiel: Die Deutschen Be beklagen den Mangel an einem nationalen Lustspiel. Offenbar doch nur ein Mißverständnis der Gattung überhaupt. Vergleicht man deutsche mit französischen Lustspielen, so findet man alsbald, daß sich die letzteren nicht so sehr durch die eine, wie man allgemein glaubt, bessere Technik, sondern durch eine mehr minder fein verhüllte u. am häufigsten sogar unverhüllte brenzliche Erotik unterscheiden. Es liegt also nur an der französischen Art[,] das Sexuelle als solches stark hervorzuheben, wenn die französischen Lustspiele sowohl in Frankreich als in der ganzen Welt Anklang u. Begeisterung finden. (Wo wäre denn die erotische Sphäre unwirksam?) Dagegen ist es deutsche Art nicht, die Erotik in ebensolcher Weise unzüchtig bloßzustellen; eine Art von Scham zügelt den deutschen Lustspieldichtern die Feder, ausgenommen die Fälle, wo sich der Schriftsteller dem Erfolg zuliebe pervertiert oder, was noch schlimmer, um dem Drange der Kritik nachzugeben nachgibt, die die nationalen Unterschiede außeracht läßt lassend, das französische Lustspiel als Vorbild auch den Deutschen aufdrängt. Mir scheinen jedoch die Grenzen der nationalen Charaktere für immer festgelegt. Minna von Barnhelm 1 wird wohl niemals auf die Franzosen wirken können, dazu ist die Erotik des Fräulein Minna viel zu züchtig, wie auch die Ehrenhaftigkeit des Majors, sofern die erotische Sphäre in Betracht kommt, übertrieben. Dagegen werden wegen ihres pornographischen Beigeschmacks umgekehrt die französischen Lustspiele immer auch auf Deutsche gut wirken können. So wäre denn nur schließlich eine reinliche Scheidung der Charaktere erwünscht festzustellen, die allein es möglich machen würde, daß Deutsche ihre Lustspiele eben nur in ihrer Art, die Franzosen dann wieder in ihrer Art schr eiieben. {611} —© Transcription Marko Deisinger. |
March 1, 1917. +1½°, snowfall, then fair weather.
— Letter from Vrieslander : various questions concerning his work. — {610} Postcard to Deetjen : I name the second edition of Ornamentation , and Niloff as [works of mine] possibly still unknown to him, and mention in addition various other plans. — Postcard to Paul : new enquiry regarding his health. — From Sophie, butter and a letter, conveyed by the son of Dr. Moses Schenker ; the letter describes her new circumstances as considerably worsened. — German comedy: the Germans lament the lack of a national comedy. Evidently, however, only a misunderstanding of the genre in general. If one compares German and French comedies, then one discovers straightaway that the latter is not distinguished so much by a better technique, as is generally believed, but by a more or less carefully concealed, in fact more often unconcealed, precarious eroticism. This has merely do to with the French way placing great emphasis on the sexual element as such, if the French comedies are to find appeal and enthusiasm not only in France but also in the wider world. (For where is the erotic sphere without effect?) By contrast, it is not the German way to unmask eroticism in the same lewd way; a kind of shame tempers the pens of German comic playwrights, except in those cases where the writer is corrupted by the desire for success or, worse still, when he gives in to the critical judgment which, ignoring national differences, imposes French comedy as a model even on the Germans. For me, however, the boundaries between national characters are set in stone. Minna von Barnhelm 1 will surely never make an impression on the French: for this the innocence of Minna's eroticism is far too pronounced, as is the worthiness of the Major, insofar as the erotic sphere is concerned. By contrast, the French comedies will always make a good impression on Germans on account of their pornographic flavor. Thus in the end one only needs to determine a neat character distinction which, on its own, would enable the Germans to write comedies in their own way and French for their part in theirs. {611} —© Translation William Drabkin. |
Footnotes1 Lessing's Minna von Barnhelm oder das Soldatenglück (Minna von Barnhelm, or The Soldiers' Happiness), first performed in 1767, is widely regarded as one of the most important comedies in German literature. |