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24. XI. 16 Schön.

— Frau D. nicht mit uns, ladet uns aber spontan ein, von ihren Fenstern das Begräbnis anzusehen. 1 — Kamelie blüht auf; ihre schöne rote Farbe ist stark mit weiß durchsetzt, Lie-Liechen führt diese Erscheinung auf einen Atavismus zurück. — Orsova zurückerobert. 2 — Zur Post eigens gegangen um festzustellen, ob es nun richtig sei, daß nicht angenommene BriefSendungen, wenn man sie zurückgibt, frankirt werden müssen. Das Fräulein am Schalter beruft sich auf eine Verordnung u. schickt uns endlich, da wir nicht zu begreifen vermögen, in welchem Sinne die Post just den Absender u. nicht den schuldlosen Empfänger schützt, zum Vorstand selbst. Dieser wieder ist durch wegen seine[r] Borniertheit lange längere Zeit verhindert, uns eine richtige Antwort zu geben; er nimmt nämlich an, daß wir der Postabteilung, der er vorsteht, eine Inkorrektheit imputiren u. stellt wiederholt in gereizter Stimmung fest, daß die Verordnung nun einmal so lautet usw. Daß aber eine solche Verordnung wirklich nicht blos in der Einbildung oder Behauptung des Vorstandes, sondern in Wirklichkeit besteht, wurde uns endlich klar erst, als er nur so wie nebenbei bemerkte: „das trifft ja auch mich so hart.“ Sich daraufhin nun in eine Kritik der Verordnung mit ihm einzulassen, ist mir freilich nicht eingefallen; denn was sollte es nützen, sich mit einer untergeordneten zu Gehorsam ver- {517} pflichteten Instanz über die Verfügung einer höheren zu unterhalten?!

— Der Reiche = Selbstwohltäter, stiller Selbstwohltäter! Für sich selbst ist ihm nichts zu teuer. —

LebenslaufLebensabbau . . die Menschheit befleißigt sich mehr des letzteren als des ersteren. —

— In der Metternichgasse sahen wir kürzlich eine arme Taube, der ein Bein fehlte. Es ging uns ordentlich nahe zu sehen, wie dieser bedauernswerte Krüppel auf dem Straßenpflaster nach Krumen pickte u. dabei gar mehr zu kriechen als zu gehen oder zu fliegen genötigt war. Wir gedachten in diesem Zusammenhange noch eijenes armen Hundekrüppels, der uns in der Bahngasse 3 allabendlich seine die Wege macht kreuzt. —

Religion – blos auf Kultusration gesetzt . .

Krieg war ursprünglich Eroberung von Gütern (vgl. Bibel: „das Land, wo Milch u. Honig fließt“,Xenophon usw.); je weiter indessen die menschliche Gemeinschaft vorschritt, sollte machte sich die Tendenz bemerkbar de rn Krieg mindestens zum Teil durch den Handel zu entwurzel tn werden, sofern es nämlich überflüssig war schien, die Ware gewaltsam u. mit allen Risikos der Gewaltsamkeit an sich zu reißen, wenn man sie auch käuflich erwerben konnte. Nun aber verpestete menschliche Gemeinheit schließlich auch die Idee des Handels u. es so wird Krieg geführt darum, wer vor allem anderen den Handel hier u. dort treiben soll. —

— Der Reiche: Ihr Leben u. [illeg]Betragen erinnert an das jener famosen französischen Manier Männer, die vor einigen Jahren bei einem großen Bazarbrand dieselben Frauen zertraten, denen sie einige wenige Minuten vorher noch alle erdenklichen Huldigungen zu Füßen gelegt hatten. Diese Verbrecher Männer, die auf das Verbrechen an der Wahrheit gleich das Verbrechen am Leben folgen ließen, wollten aber durch die Panik als entschuldigt gelten. u. äÄhnlich wollen heute die Reichen durch die Kriegspanik entschuldigt sein, wenn sie die selben Armen zertreten, an denen sie doch auch schon in Friedenszeiten schwere Verbrechen, wenn auch in weniger galante rn Formen verübten.

*

© Transcription Marko Deisinger.

November 24, 1916. Fair weather

. — Mrs. Deutsch not with us, but she spontaneously invites us to watch the funeral from her windows. 1 — The camelia blooms; its lovely red color is permeated with white. Lie-Liechen attributes this phenomenon to an atavism. — Orsova reconquered. 2 — A special trip to the post office to ascertain whether letters that do not reach their destination must be restamped after they have been returned to their sender. The young lady at the counter refers to a regulation; and in the end she sends us to the manager, as we are unable to understand why the post office is protecting only the sender and not the innocent recipient. This man is prevented for a long time by his narrow-mindedness from giving us a correct reply; he assumes that we are imputing an incorrectness on the part of the post office, which he supervises; and he repeatedly asserted, in an irritable voice, that the regulation reads in just this one way, etc. That, however, such a regulation does not lie merely in the imagination or assertion of the manager, but rather in reality became clear to us only when he observed in passing: "even I, too, find that hard." To leave him with a criticism of the regulation is admittedly something I had no intention of doing; for what good would it have done to discuss with a subordinate, who was bound to abide by the rules, the decrees of a higher authority?!

— The rich man = self-benefactor, silent self-benefactor! For himself, nothing is too dear. —

Course of lifecurtailment of lifehumanity makes more of an effort with the latter than with the former. —

— In the Metternichgasse, we recently saw a poor pigeon that had lost a leg. We were deeply affected by seeing how this unfortunate cripple was picking at crumbs on the paving stones, and was obliged even to crawl more than to walk or fly. We thought in this connection even of that poor crippled dog whose path along the Bahngasse 3 crosses ours every evening. —

Religion – merely based on cult ration

War was originally the conquest of goods (see the Bible: "the land where milk and honey flow"; Xenophon; and so on); yet the further human society progressed, the tendency became increasingly noticeable to remove the cause of war at least in part by trade, insofar as it seemed unnecessary to seize goods for oneself with all the risks of violence when they could also be acquired by being purchased. But now, human baseness has finally poisoned even the idea of trade; and so war is waged so that one can pursue trade here and there before anything else. —

— The rich: their life and behavior are reminiscent of those notorious French men who, in a great market fire a few years ago, trampled on the same women at whose feet they were still laying every imaginable adulation only a few minutes before. These men, who immediately followed up their crimes against the truth with their crimes against life, wanted, however, their action to be excused as a result of the [ensuing] panic. In a similar way, today's rich people wish to be excused as a result of the panic of war when they trample on the same poor people against whom, even in times of peace, they perpetrated serious crimes, even if these took on less chivalrous forms.

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© Translation William Drabkin.

24. XI. 16 Schön.

— Frau D. nicht mit uns, ladet uns aber spontan ein, von ihren Fenstern das Begräbnis anzusehen. 1 — Kamelie blüht auf; ihre schöne rote Farbe ist stark mit weiß durchsetzt, Lie-Liechen führt diese Erscheinung auf einen Atavismus zurück. — Orsova zurückerobert. 2 — Zur Post eigens gegangen um festzustellen, ob es nun richtig sei, daß nicht angenommene BriefSendungen, wenn man sie zurückgibt, frankirt werden müssen. Das Fräulein am Schalter beruft sich auf eine Verordnung u. schickt uns endlich, da wir nicht zu begreifen vermögen, in welchem Sinne die Post just den Absender u. nicht den schuldlosen Empfänger schützt, zum Vorstand selbst. Dieser wieder ist durch wegen seine[r] Borniertheit lange längere Zeit verhindert, uns eine richtige Antwort zu geben; er nimmt nämlich an, daß wir der Postabteilung, der er vorsteht, eine Inkorrektheit imputiren u. stellt wiederholt in gereizter Stimmung fest, daß die Verordnung nun einmal so lautet usw. Daß aber eine solche Verordnung wirklich nicht blos in der Einbildung oder Behauptung des Vorstandes, sondern in Wirklichkeit besteht, wurde uns endlich klar erst, als er nur so wie nebenbei bemerkte: „das trifft ja auch mich so hart.“ Sich daraufhin nun in eine Kritik der Verordnung mit ihm einzulassen, ist mir freilich nicht eingefallen; denn was sollte es nützen, sich mit einer untergeordneten zu Gehorsam ver- {517} pflichteten Instanz über die Verfügung einer höheren zu unterhalten?!

— Der Reiche = Selbstwohltäter, stiller Selbstwohltäter! Für sich selbst ist ihm nichts zu teuer. —

LebenslaufLebensabbau . . die Menschheit befleißigt sich mehr des letzteren als des ersteren. —

— In der Metternichgasse sahen wir kürzlich eine arme Taube, der ein Bein fehlte. Es ging uns ordentlich nahe zu sehen, wie dieser bedauernswerte Krüppel auf dem Straßenpflaster nach Krumen pickte u. dabei gar mehr zu kriechen als zu gehen oder zu fliegen genötigt war. Wir gedachten in diesem Zusammenhange noch eijenes armen Hundekrüppels, der uns in der Bahngasse 3 allabendlich seine die Wege macht kreuzt. —

Religion – blos auf Kultusration gesetzt . .

Krieg war ursprünglich Eroberung von Gütern (vgl. Bibel: „das Land, wo Milch u. Honig fließt“,Xenophon usw.); je weiter indessen die menschliche Gemeinschaft vorschritt, sollte machte sich die Tendenz bemerkbar de rn Krieg mindestens zum Teil durch den Handel zu entwurzel tn werden, sofern es nämlich überflüssig war schien, die Ware gewaltsam u. mit allen Risikos der Gewaltsamkeit an sich zu reißen, wenn man sie auch käuflich erwerben konnte. Nun aber verpestete menschliche Gemeinheit schließlich auch die Idee des Handels u. es so wird Krieg geführt darum, wer vor allem anderen den Handel hier u. dort treiben soll. —

— Der Reiche: Ihr Leben u. [illeg]Betragen erinnert an das jener famosen französischen Manier Männer, die vor einigen Jahren bei einem großen Bazarbrand dieselben Frauen zertraten, denen sie einige wenige Minuten vorher noch alle erdenklichen Huldigungen zu Füßen gelegt hatten. Diese Verbrecher Männer, die auf das Verbrechen an der Wahrheit gleich das Verbrechen am Leben folgen ließen, wollten aber durch die Panik als entschuldigt gelten. u. äÄhnlich wollen heute die Reichen durch die Kriegspanik entschuldigt sein, wenn sie die selben Armen zertreten, an denen sie doch auch schon in Friedenszeiten schwere Verbrechen, wenn auch in weniger galante rn Formen verübten.

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© Transcription Marko Deisinger.

November 24, 1916. Fair weather

. — Mrs. Deutsch not with us, but she spontaneously invites us to watch the funeral from her windows. 1 — The camelia blooms; its lovely red color is permeated with white. Lie-Liechen attributes this phenomenon to an atavism. — Orsova reconquered. 2 — A special trip to the post office to ascertain whether letters that do not reach their destination must be restamped after they have been returned to their sender. The young lady at the counter refers to a regulation; and in the end she sends us to the manager, as we are unable to understand why the post office is protecting only the sender and not the innocent recipient. This man is prevented for a long time by his narrow-mindedness from giving us a correct reply; he assumes that we are imputing an incorrectness on the part of the post office, which he supervises; and he repeatedly asserted, in an irritable voice, that the regulation reads in just this one way, etc. That, however, such a regulation does not lie merely in the imagination or assertion of the manager, but rather in reality became clear to us only when he observed in passing: "even I, too, find that hard." To leave him with a criticism of the regulation is admittedly something I had no intention of doing; for what good would it have done to discuss with a subordinate, who was bound to abide by the rules, the decrees of a higher authority?!

— The rich man = self-benefactor, silent self-benefactor! For himself, nothing is too dear. —

Course of lifecurtailment of lifehumanity makes more of an effort with the latter than with the former. —

— In the Metternichgasse, we recently saw a poor pigeon that had lost a leg. We were deeply affected by seeing how this unfortunate cripple was picking at crumbs on the paving stones, and was obliged even to crawl more than to walk or fly. We thought in this connection even of that poor crippled dog whose path along the Bahngasse 3 crosses ours every evening. —

Religion – merely based on cult ration

War was originally the conquest of goods (see the Bible: "the land where milk and honey flow"; Xenophon; and so on); yet the further human society progressed, the tendency became increasingly noticeable to remove the cause of war at least in part by trade, insofar as it seemed unnecessary to seize goods for oneself with all the risks of violence when they could also be acquired by being purchased. But now, human baseness has finally poisoned even the idea of trade; and so war is waged so that one can pursue trade here and there before anything else. —

— The rich: their life and behavior are reminiscent of those notorious French men who, in a great market fire a few years ago, trampled on the same women at whose feet they were still laying every imaginable adulation only a few minutes before. These men, who immediately followed up their crimes against the truth with their crimes against life, wanted, however, their action to be excused as a result of the [ensuing] panic. In a similar way, today's rich people wish to be excused as a result of the panic of war when they trample on the same poor people against whom, even in times of peace, they perpetrated serious crimes, even if these took on less chivalrous forms.

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© Translation William Drabkin.

Footnotes

1 Emperor Franz Joseph I died on November 21.

2 "Die Wiedereinnahme von Orsova und Turn-Severin," Neue Freie Presse, No. 18774, November 25, 1916, morning edition, p. 8.

3 In the third district of Vienna (Landstraße), the Rechte Bahngasse and the Linke Bahngasse run alongside the train line which, at the time, connected the North and South Railway Stations, and which now connect Praterstern with the city's Central Railway Station.