2. Wolkenlos blauer Himmel.
Wegen vorgerückter Frühstücksstunde u. weil wir gestern abends einen Eßvorrat anzuschaffen versäumt haben, müssen wir die Gelegenheit eines für eine größere Tour so günstigen schönen Wetters leider ungenutzt vorüberziehen lassen. Auch ein Fall, an {359} dem der Krieg seine Wirkung äußert. Während man im Frieden möglich hatte, sich am selben Morgen die nötigen Mundvorräte wie z. B. Wurst, Käse, Butter, Brot nach Belieben anzuschaffen, macht die gegenwärtige Konstellation, sofern sie sich in der Knappheit der Eßvorräte äußert, extemporirte touristische Ausflüge unmöglich. Um nun der Natur in ihr gerade heute so besonders schönes Antlitz zu sehen, gehen wir den Eugenweg (8¼–10h)[,] u. schließen aber, da die Stunde noch günstiger war, den ersten Teil des Darmstädter Weges an. Erst um ¼12h kehren wir um. Auf dem Eugenweg fällt uns wieder jene geradezu urwaldige Flora auf, die sich um das Knie eines jener heftigen Wasserstrahlen entfaltet, Wasser u. Boden unkenntlich macht u. im weiten Nadelwald einen eigenen besonderen Wald vorstellt. Beinahe beklemmend möchte man den Eindruck dieser Stelle nennen, was ich mir nun so erkläre: Wir sind es gewohnt, daß uns Bäume über den Kopf wachsen, dulden es aber umso weniger, daß auch Pflanzen, die wenn sie keine Bäume sind, uns ebenso demütigen. Dazu eine kühle Feuchtigkeit, ohne daß schon unser Auge den eigentlichen Grund davon unserer Erkenntnis vermitteln könnte. Der schöne Tag verlockt uns auch, im Garten statt im Stübchen zu Tisch zu essen.; doch behält Lie-Liechen damit Recht, daß der Zuwachs an Freude durch verschiedenartige nachteilige Momente paral iysiert wird, so daß wir schon nach diesem einen Versuch den Plan, im Freien zu essen, wieder aufgeben. Nach Tisch in der Hängematte u. Bad. — „Wilhelm Meister“ VI 1 Fortsetzung. — — Endlich langt das langersehnte Packet [sic] Zeitungen an, doch fehlen noch die vom 16.–25. d. M. *Beide Kaiser wenden sich in Manifeste an ihre Völker, um den Eintritt in das dritte Kriegsjahr mit einigen Worten anzuzeigen. 2 Der Rückblick auf die Erfolge der beiden ersten Jahre macht den beiden Herrschern den Ausblick in das dritte immerhin verheißender verheißungsvoller, als er unseren Feinden sein könnte, deren ähnliche Versuche, sich in Manifesten zu äußern, notwendig an der inneren Haltlosigkeit der Situation scheitern müssen. — *{360} Herr Schuler überrascht uns mit der Pensionsforderung von 11.50 Kronen per Tag, während er seinerzeit im Brief an mich blos 11 Kronen verankündete. Auch hebt er noch immer den Beitrag für den Verschönerungsverein ein, obgleich es sich dabei blos um Dinge pro futuro handeln kann, um Zahlung für Genüsse, die nach uns erst andere haben werden. — — An Frau Colbert (K.); teile meine Militärbefreiung mit. — *
© Transcription Marko Deisinger. |
2. Cloudless blue sky.
On account of an earlier breakfast hour, and because we forgot to prepare a food supply the previous evening, we must unfortunately miss the opportunity for a longer tour occasioned by the favorable fair weather. Another example {359} of how the war is exerting its effect. Whereas it was possible in peacetime to gather the necessary provisions – sausage, cheese, butter, bread – at one's liberty, the present situation, which is governed by a scarcity of provisions, makes spur-of-the-moment touristic excursions impossible. In order, now, to see nature today in its especially attractive appearance, we take the Eugenweg from 8:15 to 10 o'clock; but as the hour was even more favorable, we extend it with the first part of the Darmstädter Weg. We do not turn back until 11:15. On the Eugenweg, we are again struck by that truly primeval flora, which unfolds about the sharp bend in one of those powerful water jets, making water and firm ground unrecognizable and representing a special wood within the larger coniferous forest. One could almost call the impression made by this place "oppressive," which I could now explain as follows: We are used to having trees grow above our head, and we are therefore all the less tolerant of plants that are not trees likewise humbling us. To this is added a cool dampness, without our eyes being able to communicate our recognition of the actual reason for it. The beautiful day also entices us to have lunch in the garden, rather than in the dining room; but Lie-Liechen rightly observes that the growth in joy will be paralyzed by various adverse circumstances; and so, after making this one attempt, we again give up the plan to eat out of doors. After lunch, in the hammock, and a bath. — Wilhelm Meister VI 1 continued. — — Finally, the long-awaited packet of newspapers arrives; yet those from the 16th to the 25th of the month are still missing. *The two emperors address their people with manifestos, to introduce them to the start of the third year of the war with a few words. 2 The retrospective of the successes of the first two years makes the prospect of the third year more propitious than it could be for our enemies, whose similar attempts to express themselves in manifestos must necessarily fail as a result of the instability of the circumstances. — *{360} Mr. Schuler surprises us with a request of 11.50 Kronen per day for room and board, whereas he had previously mentioned just 11 Kronen in his letter. And he is still collecting the payment for the [village] beautification society, although this can merely apply to the future: payment for pleasures that only those who come after us will enjoy. — — Postcard to Colbert; I communicate my freedom from military service. — *
© Translation William Drabkin. |
2. Wolkenlos blauer Himmel.
Wegen vorgerückter Frühstücksstunde u. weil wir gestern abends einen Eßvorrat anzuschaffen versäumt haben, müssen wir die Gelegenheit eines für eine größere Tour so günstigen schönen Wetters leider ungenutzt vorüberziehen lassen. Auch ein Fall, an {359} dem der Krieg seine Wirkung äußert. Während man im Frieden möglich hatte, sich am selben Morgen die nötigen Mundvorräte wie z. B. Wurst, Käse, Butter, Brot nach Belieben anzuschaffen, macht die gegenwärtige Konstellation, sofern sie sich in der Knappheit der Eßvorräte äußert, extemporirte touristische Ausflüge unmöglich. Um nun der Natur in ihr gerade heute so besonders schönes Antlitz zu sehen, gehen wir den Eugenweg (8¼–10h)[,] u. schließen aber, da die Stunde noch günstiger war, den ersten Teil des Darmstädter Weges an. Erst um ¼12h kehren wir um. Auf dem Eugenweg fällt uns wieder jene geradezu urwaldige Flora auf, die sich um das Knie eines jener heftigen Wasserstrahlen entfaltet, Wasser u. Boden unkenntlich macht u. im weiten Nadelwald einen eigenen besonderen Wald vorstellt. Beinahe beklemmend möchte man den Eindruck dieser Stelle nennen, was ich mir nun so erkläre: Wir sind es gewohnt, daß uns Bäume über den Kopf wachsen, dulden es aber umso weniger, daß auch Pflanzen, die wenn sie keine Bäume sind, uns ebenso demütigen. Dazu eine kühle Feuchtigkeit, ohne daß schon unser Auge den eigentlichen Grund davon unserer Erkenntnis vermitteln könnte. Der schöne Tag verlockt uns auch, im Garten statt im Stübchen zu Tisch zu essen.; doch behält Lie-Liechen damit Recht, daß der Zuwachs an Freude durch verschiedenartige nachteilige Momente paral iysiert wird, so daß wir schon nach diesem einen Versuch den Plan, im Freien zu essen, wieder aufgeben. Nach Tisch in der Hängematte u. Bad. — „Wilhelm Meister“ VI 1 Fortsetzung. — — Endlich langt das langersehnte Packet [sic] Zeitungen an, doch fehlen noch die vom 16.–25. d. M. *Beide Kaiser wenden sich in Manifeste an ihre Völker, um den Eintritt in das dritte Kriegsjahr mit einigen Worten anzuzeigen. 2 Der Rückblick auf die Erfolge der beiden ersten Jahre macht den beiden Herrschern den Ausblick in das dritte immerhin verheißender verheißungsvoller, als er unseren Feinden sein könnte, deren ähnliche Versuche, sich in Manifesten zu äußern, notwendig an der inneren Haltlosigkeit der Situation scheitern müssen. — *{360} Herr Schuler überrascht uns mit der Pensionsforderung von 11.50 Kronen per Tag, während er seinerzeit im Brief an mich blos 11 Kronen verankündete. Auch hebt er noch immer den Beitrag für den Verschönerungsverein ein, obgleich es sich dabei blos um Dinge pro futuro handeln kann, um Zahlung für Genüsse, die nach uns erst andere haben werden. — — An Frau Colbert (K.); teile meine Militärbefreiung mit. — *
© Transcription Marko Deisinger. |
2. Cloudless blue sky.
On account of an earlier breakfast hour, and because we forgot to prepare a food supply the previous evening, we must unfortunately miss the opportunity for a longer tour occasioned by the favorable fair weather. Another example {359} of how the war is exerting its effect. Whereas it was possible in peacetime to gather the necessary provisions – sausage, cheese, butter, bread – at one's liberty, the present situation, which is governed by a scarcity of provisions, makes spur-of-the-moment touristic excursions impossible. In order, now, to see nature today in its especially attractive appearance, we take the Eugenweg from 8:15 to 10 o'clock; but as the hour was even more favorable, we extend it with the first part of the Darmstädter Weg. We do not turn back until 11:15. On the Eugenweg, we are again struck by that truly primeval flora, which unfolds about the sharp bend in one of those powerful water jets, making water and firm ground unrecognizable and representing a special wood within the larger coniferous forest. One could almost call the impression made by this place "oppressive," which I could now explain as follows: We are used to having trees grow above our head, and we are therefore all the less tolerant of plants that are not trees likewise humbling us. To this is added a cool dampness, without our eyes being able to communicate our recognition of the actual reason for it. The beautiful day also entices us to have lunch in the garden, rather than in the dining room; but Lie-Liechen rightly observes that the growth in joy will be paralyzed by various adverse circumstances; and so, after making this one attempt, we again give up the plan to eat out of doors. After lunch, in the hammock, and a bath. — Wilhelm Meister VI 1 continued. — — Finally, the long-awaited packet of newspapers arrives; yet those from the 16th to the 25th of the month are still missing. *The two emperors address their people with manifestos, to introduce them to the start of the third year of the war with a few words. 2 The retrospective of the successes of the first two years makes the prospect of the third year more propitious than it could be for our enemies, whose similar attempts to express themselves in manifestos must necessarily fail as a result of the instability of the circumstances. — *{360} Mr. Schuler surprises us with a request of 11.50 Kronen per day for room and board, whereas he had previously mentioned just 11 Kronen in his letter. And he is still collecting the payment for the [village] beautification society, although this can merely apply to the future: payment for pleasures that only those who come after us will enjoy. — — Postcard to Colbert; I communicate my freedom from military service. — *
© Translation William Drabkin. |
Footnotes1 Johann Wolfgang von Goethe, Wilhelm Meisters Lehrjahre (Wilhelm Meister's Apprenticeship), vol. 1, first published in 1795 (Berlin: Johann Friedrich Unger). 2 "Dank des Kaisers an die Bevölkerung. Anläßlich des zweiten Jahrestages des Kriegsbeginnes" and "Der Dank Kaiser Wilhelms beim Beginne des dritten Kriegsjahres," Neue Freie Presse, No. 18658, August 1, 1916, morning edition, pp. 1-3. |