19. VII. 16
Bewölkt, von Zeit zu Zeit Regen; gegen Abend immer heftiger u. hartnäckiger. — Zwischen ½11–¾12 konnten wir dennoch einen kleinen Sprung ins Freie machen. — — Von Rothberger (Br.) Gratulation. — Von Mittelmann (K.) Dank für Geldsendung u. Gratulation. *Den Kosmopolitismus der großen Dichter Herder, Lessing, Goethe, Schiller hat die deutsche Nation im späteren Verlauf ihrer Geschichte ein wenig herabzuwürdigen gesucht; aber nur der der Krämer war bleibt allezeit unangefochten geblieben u. so auch bis heute. — *Einzig Der Reichtum ist als der springende Punkt im Staatsleben anzusehen. Formen des Reichtums sind zugleich Formen des Staates. Nur scheinbar kämpft man daher gegen angebliche Staatseinrichtungen, während man in Wahrheit gegen den Reichtum zu kämpfen bemüßigt ist. Schlau genug wußte der Reichtum sich mit dem Staatsschild zu decken, um bei etwaigem Widerstande, einer Revolution, die wider ihn gerichteten Angriffe {345} als Staatsverbrechen hinstellen zu können. Es wäre aber nicht nur für Politiker[,] sondern auch für die Geschichtsschreiber außerordentlich wichtig zu erkennen, wie sehr im Grunde die Staatsform, in Krieg u. Frieden, nur eine leere Form vorstellt u. alle Verschiebungen u. Kämpfe im Grunde u. mittelbar nur gegen den Reichtum, der leider einzig u. allein Inhalt hat, gerichtet sind. — *Phantasie kann niemals passiv sein. W Vegetativer Müßiggang ist noch lange keine Phantasie, wenn er auch auf jemand poetischen Eindruck machen kann, sofern dann nämlich der Betrachtende den Anblick des Müßigganges bezw. den Müßiggänger in schöpferischer Weise irgendwie als Baustein von Gedanken bezw. Stimmungen verwendet. Phantasie ist allezeit aktiv u. schöpferisch, u. als schöpferische Potenz gegründet auf Sachlichkeit, u. in dieser identisch u. s yinonym mit Poesie überhaupt. Leider hält es damit der Sprachgebrauch in umgekehrter Weise u. nennt: phantastisch, was vom Standpunkt des Schöpferischen nur Prosa des Unschöpferischen sein kann ist. Auch das in letzter Zeit so stark in Umlauf gebrachte Wort „heilige Nüchternheit“ beruht auf solcher irrtümlichen Anwendungen; denn sofern diejenigen, die das Wort gebrauchen, Nüchternheit mit Sachlichkeit für gleichbedeutend halten – u. die ist tatsächlich der Fall – so ist Nüchternheit schon vermöge der aus der Sachlichkeit stammenden Produktivität zugleich Poesie. Auf diese Weise erklärt sich auch ungezwungen die Möglichkeit, von einer heiligen Nüchternheit zu sprechen. Setze ich dafür heilige Poesie, so versteht man den Drang nach dem Adjectiv: heilig umso besser. — *Ein Tischler im Verbande des Hauses Schuler erzählt uns einige Erlebnisse aus seinem Frontdienst: Er habe nicht selten zu wenig zu essen gehabt; auch der Offiziersstand lasse, bis auf wenige Ausnahmen, sehr zu wünschen übrig u. er schloß seine Erzählung mit den Worten: Wo soll man da Patriotismus hernehmen? — *{346} Wilhelm Meister, IV4–18. 1 — Hölderlin sieht in Homer eine Bändigung der orientalischen Phantasie. Ich meine dagegen: Was als Bändigung erscheint, ist das gleichsam noch nicht erwachsene Material, das Stoffliche in seinem ersten Elementen. Die Vorstellungen der Gefahren oder Götter waren der Hauptinhalt der Phantasie, stellten somit durch sich selbst das [illeg]Grenzenlose der Phantasie vor. Desto näher lag es nun dem Dichter, alle übrigen Worte u. Bestandteile des Werkes einfach zu halten. Denn neben dem Grandiosen jener Elemente, der Götter u. Gefahren, gibt es einfach nichts mehr ähnlich Grandioses! — *
© Transcription Marko Deisinger. |
July 19, 1916.
Cloudy, rain from time to time, increasingly severe and persistent towards evening. — Between 10:30 and 11:45, we could nonetheless get outdoors for a short while. — — Letter from Rothberger, congratulations. — Postcard from Mittelmann, thanks for sending money, and congratulations. *In the later course of its history the German nation has sought to disparage, in a small way, the cosmopolitanism of the great poets Herder, Lessing, Goethe, and Schiller. But only the businessman remains at all times unchallenged, and so even until today. — *Wealth alone should be seen as the crucial point in the life of the state. Forms of wealth are at the same time forms of the state. Only in an illusory way, then, does one struggle against the supposed government institutions: in reality one is compelled to struggle against wealth. Wealth was clever enough to cover itself with the sign of the state so that, in the event of an opposition or revolution waged against it, {345} it could denounce this as a crime against the state. It would be extremely important not only for politicians but also for the historians to recognize how much the system of government, whether in war or in peace, represents only an empty system; and all deferrals and struggles are directed essentially and indirectly against wealth which, unfortunately, has sole content. — *Imagination can never be passive. Vegetative idleness is by no means imagination even if it can make a poetic impression, insofar as the observer would then use the sight of idleness or an idle person in a creative way, somehow as a building-block for ideas or sentiments. Imagination is at all time creative and active and, as a creative potential, based on objectivity and in this respect synonymous with poetry in general. Unfortunately, everyday speech turns this the other way around and defines "imaginative" as that which, from the perspective of the creative, is only the prose of the uncreative. Also the expression that has gained such strong currency in recent time, "sacred sobriety," is based on such mistaken usages; for as soon as those who use the word take "sobriety" as meaning the same as "objectivity" – and that is in fact the case – then sobriety, by dint of the productivity that arises from objectivity, is at the same time poetry. In this way we can understand, even casually, the possibility of speaking of a sacred sobriety. If I replace this expression with "sacred poetry," then one can understand the impetus towards the adjective "sacred" all the better. — *A carpenter employed by the Schuler family recounts to us some of his experiences on the front. He did not seldom have too little to eat; even the officer class, with few exceptions, left much to be desired, and he closed his story with the words: "Then where is patriotism supposed to be had?" — *{346} Wilhelm Meister, IV4–18. 1 — Hölderlin sees in Homer a restraining of oriental imagination. I, however, say that what appears to be restraint is material that is, so to speak, not yet fully mature, the material in its first stages. The representation of dangers or gods was the principal content of the imagination; they represent in and of themselves the boundlessness of imagination. And so it was all the more appropriate to suppress all other words and components of the work. For in comparison to the grandiosity of those elements – the gods and the dangers – there is simply nothing that is similarly grandiose! — *
© Translation William Drabkin. |
19. VII. 16
Bewölkt, von Zeit zu Zeit Regen; gegen Abend immer heftiger u. hartnäckiger. — Zwischen ½11–¾12 konnten wir dennoch einen kleinen Sprung ins Freie machen. — — Von Rothberger (Br.) Gratulation. — Von Mittelmann (K.) Dank für Geldsendung u. Gratulation. *Den Kosmopolitismus der großen Dichter Herder, Lessing, Goethe, Schiller hat die deutsche Nation im späteren Verlauf ihrer Geschichte ein wenig herabzuwürdigen gesucht; aber nur der der Krämer war bleibt allezeit unangefochten geblieben u. so auch bis heute. — *Einzig Der Reichtum ist als der springende Punkt im Staatsleben anzusehen. Formen des Reichtums sind zugleich Formen des Staates. Nur scheinbar kämpft man daher gegen angebliche Staatseinrichtungen, während man in Wahrheit gegen den Reichtum zu kämpfen bemüßigt ist. Schlau genug wußte der Reichtum sich mit dem Staatsschild zu decken, um bei etwaigem Widerstande, einer Revolution, die wider ihn gerichteten Angriffe {345} als Staatsverbrechen hinstellen zu können. Es wäre aber nicht nur für Politiker[,] sondern auch für die Geschichtsschreiber außerordentlich wichtig zu erkennen, wie sehr im Grunde die Staatsform, in Krieg u. Frieden, nur eine leere Form vorstellt u. alle Verschiebungen u. Kämpfe im Grunde u. mittelbar nur gegen den Reichtum, der leider einzig u. allein Inhalt hat, gerichtet sind. — *Phantasie kann niemals passiv sein. W Vegetativer Müßiggang ist noch lange keine Phantasie, wenn er auch auf jemand poetischen Eindruck machen kann, sofern dann nämlich der Betrachtende den Anblick des Müßigganges bezw. den Müßiggänger in schöpferischer Weise irgendwie als Baustein von Gedanken bezw. Stimmungen verwendet. Phantasie ist allezeit aktiv u. schöpferisch, u. als schöpferische Potenz gegründet auf Sachlichkeit, u. in dieser identisch u. s yinonym mit Poesie überhaupt. Leider hält es damit der Sprachgebrauch in umgekehrter Weise u. nennt: phantastisch, was vom Standpunkt des Schöpferischen nur Prosa des Unschöpferischen sein kann ist. Auch das in letzter Zeit so stark in Umlauf gebrachte Wort „heilige Nüchternheit“ beruht auf solcher irrtümlichen Anwendungen; denn sofern diejenigen, die das Wort gebrauchen, Nüchternheit mit Sachlichkeit für gleichbedeutend halten – u. die ist tatsächlich der Fall – so ist Nüchternheit schon vermöge der aus der Sachlichkeit stammenden Produktivität zugleich Poesie. Auf diese Weise erklärt sich auch ungezwungen die Möglichkeit, von einer heiligen Nüchternheit zu sprechen. Setze ich dafür heilige Poesie, so versteht man den Drang nach dem Adjectiv: heilig umso besser. — *Ein Tischler im Verbande des Hauses Schuler erzählt uns einige Erlebnisse aus seinem Frontdienst: Er habe nicht selten zu wenig zu essen gehabt; auch der Offiziersstand lasse, bis auf wenige Ausnahmen, sehr zu wünschen übrig u. er schloß seine Erzählung mit den Worten: Wo soll man da Patriotismus hernehmen? — *{346} Wilhelm Meister, IV4–18. 1 — Hölderlin sieht in Homer eine Bändigung der orientalischen Phantasie. Ich meine dagegen: Was als Bändigung erscheint, ist das gleichsam noch nicht erwachsene Material, das Stoffliche in seinem ersten Elementen. Die Vorstellungen der Gefahren oder Götter waren der Hauptinhalt der Phantasie, stellten somit durch sich selbst das [illeg]Grenzenlose der Phantasie vor. Desto näher lag es nun dem Dichter, alle übrigen Worte u. Bestandteile des Werkes einfach zu halten. Denn neben dem Grandiosen jener Elemente, der Götter u. Gefahren, gibt es einfach nichts mehr ähnlich Grandioses! — *
© Transcription Marko Deisinger. |
July 19, 1916.
Cloudy, rain from time to time, increasingly severe and persistent towards evening. — Between 10:30 and 11:45, we could nonetheless get outdoors for a short while. — — Letter from Rothberger, congratulations. — Postcard from Mittelmann, thanks for sending money, and congratulations. *In the later course of its history the German nation has sought to disparage, in a small way, the cosmopolitanism of the great poets Herder, Lessing, Goethe, and Schiller. But only the businessman remains at all times unchallenged, and so even until today. — *Wealth alone should be seen as the crucial point in the life of the state. Forms of wealth are at the same time forms of the state. Only in an illusory way, then, does one struggle against the supposed government institutions: in reality one is compelled to struggle against wealth. Wealth was clever enough to cover itself with the sign of the state so that, in the event of an opposition or revolution waged against it, {345} it could denounce this as a crime against the state. It would be extremely important not only for politicians but also for the historians to recognize how much the system of government, whether in war or in peace, represents only an empty system; and all deferrals and struggles are directed essentially and indirectly against wealth which, unfortunately, has sole content. — *Imagination can never be passive. Vegetative idleness is by no means imagination even if it can make a poetic impression, insofar as the observer would then use the sight of idleness or an idle person in a creative way, somehow as a building-block for ideas or sentiments. Imagination is at all time creative and active and, as a creative potential, based on objectivity and in this respect synonymous with poetry in general. Unfortunately, everyday speech turns this the other way around and defines "imaginative" as that which, from the perspective of the creative, is only the prose of the uncreative. Also the expression that has gained such strong currency in recent time, "sacred sobriety," is based on such mistaken usages; for as soon as those who use the word take "sobriety" as meaning the same as "objectivity" – and that is in fact the case – then sobriety, by dint of the productivity that arises from objectivity, is at the same time poetry. In this way we can understand, even casually, the possibility of speaking of a sacred sobriety. If I replace this expression with "sacred poetry," then one can understand the impetus towards the adjective "sacred" all the better. — *A carpenter employed by the Schuler family recounts to us some of his experiences on the front. He did not seldom have too little to eat; even the officer class, with few exceptions, left much to be desired, and he closed his story with the words: "Then where is patriotism supposed to be had?" — *{346} Wilhelm Meister, IV4–18. 1 — Hölderlin sees in Homer a restraining of oriental imagination. I, however, say that what appears to be restraint is material that is, so to speak, not yet fully mature, the material in its first stages. The representation of dangers or gods was the principal content of the imagination; they represent in and of themselves the boundlessness of imagination. And so it was all the more appropriate to suppress all other words and components of the work. For in comparison to the grandiosity of those elements – the gods and the dangers – there is simply nothing that is similarly grandiose! — *
© Translation William Drabkin. |
Footnotes1 Johann Wolfgang von Goethe, Wilhelm Meisters Lehrjahre (Wilhelm Meister's Apprenticeship), vol. 1, first published in 1795 (Berlin: Johann Friedrich Unger). |