30. I. 16 +1°;
graue Schneewolken am Himmel, auf Bäumen u. Dächern große Schneemassen – eine Winterlandschaft. *Die Sentenz der Bibel „Seid fruchtbar u. mehret Eeuch“ wiederholen die Reichen gerne, doch in anderem Sinne; sie geben den göttlichen Auftrag an die Armen weiter u. behalten sich selbst nur die Mehrung der Reichtümer vor, die sie dem Schutze der fruchtbaren Armen empfehlen. *Die die Macht besitzen tuscheln untereinander, man dürfe die Wahrheit über den Sinn des Lebens den Armen unten nicht verraten, man müsse sie im Irrtum lassen, damit sie das Leben im Dienste der Reichen erträglich finden. Nur denn, so meine ich, daß ähnliche Prozedur auch von unten hinauf gemacht werden könnte: {121} daß die unten in irgend einer Form ein unfreies Verhältnis der Oberen hervorrufen u. sich dabei nur hüten müssten, die Oberen darüber ins Klare kommen zu lassen. Liegt der ganze Witz der Ausnützung schließlich darin, daß man den Ausgenutzten nicht zum Bewußtsein des Sachverhaltes kommen läßt, so ist das umgekehrte Verfahren wohl auch denkbar, daß die Reichen einmal ausgenutzt werden, ohne daß man sie darüber zum Bewußtsein kommen ließe. — *Populäres Konzert: 1 Schumann: Rheinische Symphonie; kurzathmig, vielfach klaviristisch. Forçierte Künstlichkeit als Ersatz für natürlich geborene Länge, oft lyrisch kleinlich u. dennoch vielfach ergreifend vornehm, ja auch kühn. – Rich. Strauss: „Till Eulenspiegel“. Winiawski: Violinkonzert u.: Beethoven: Leonoren-Ouverture No. 2. *Ein Zeppelin über Paris!! 2 Vermutlich mene tekel u. Mahnung an die Franzosen, ihre Arroganz zum Teufel fahren zu lassen u. endlich ihre Unterlegenheit einzusehen. Wie schwierig geht doch die Erziehung der Menschheit vor sich, wenn der zur Erziehung berufene sich nicht nur mit der Macht des Geistes, sondern auch mit der Munition der Bomben legitimiren muß. Nicht Beispiel, nicht Ueberredung führen zum Ziele, lediglich Gewalt. Und so muss der Erzieher fast einen Widerspruch zu seiner Mission begehen u. Gewalt anwenden, wo er sie doch wahrlich lieber vermieden wissen möchte. — *„Ueber sich selbst erhoben“ drückt geradezu bildlich drastisch die Wirkung jeder reinen Hingabe u. Liebe aus, gleichviel ob sie sich auf Menschen oder Kunst bezieht. Der sich-Hingebende tritt eben über sich selbst hinaus! — *{122} Auch der Kaufmann liebt die Ordnung u. er preist die doppelte Buchhaltung (vgl. „Wilhelm Meister“ 3 I. Buch, 3. Kap.); nur weiß er nicht, daß auch für auf d ieen geistigen Gebieten Ordnung das herrschende Prinzip ist, sowohl im Schaffen, als im Lebenswandel der Künstler, so daß wieder als wesentlicher Unterschied zwischen Kaufmann u. Künstler eben dieses bezeichnet wirden werden muss, daß der Kaufmann nur auf dem Wege des Egoismus zu persönlichen Interessen die Ordnung kennen lernt u. erwirbt, während der Künstler sie auch aus abstrakten Gründen betreibt. — *
© Transcription Marko Deisinger. |
January 30, 1916, +1°;
gray snow clouds in the sky, large quantities of snow on the trees and roofs – a winter landscape. *The sentence in the Bible, "Be fruitful and multiply," is something the rich like to repeat, but understood in a different way; they pass the divine command on to the poor and only reserve the increase of riches for themselves, which they recommend for the protection of the fruitful poor. *Those who have power whisper among themselves: one should not divulge the truth about the meaning of the life of poor people below; one should keep them in the dark, so that they will find their life in the service of the rich bearable. If only, I say, a similar procedure could be invoked also from below, upwards, {121} so that those below could somehow perforce introduce a relationship of dependency in those above and thus guard against those above being aware of it. If the whole point of exploitation is ultimately not to let those who are being exploited become conscious of their situation, then the reverse procedure can surely also be imagined: that the rich will for once be exploited without their becoming conscious of it. — *Popular Concert: 1 Schumann's "Rhenish" Symphony; short-breathed, in many respects pianistic. Forced artificiality as a substitute for naturally born lengths, often with small-scale lyricism, and yet in many respects poignantly noble, even daring. – Richard Strauss's Till Eulenspiegel. Wieniawski's Violin Concerto, and Beethoven's Leonore Overture No. 2. *A zeppelin over Paris!! 2 Presumably the writing on the wall, and a warning to the French to abandon their arrogance to the devil and finally admit their inferiority. With what difficulty the education of humanity is proceeding if those who are called to education must legitimize themselves not only with the power of intellect but also with the ammunition of bombs. Neither setting an example nor persuasion will lead to the goal, only force. And so the educator must almost act in contradiction to his mission and apply force where he would really prefer to avoid using it. — *"Raised above oneself" is a thoroughly graphic way of expressing the effect of all pure love and devotion, whether it applies to people or to art. The person who is devoting himself verily steps outside and above himself! — *{122} The businessman, too, loves order; and he extols double-entry accounting (see Wilhelm Meister, 3 book I, chapter 3); but he doesn't know that in the intellectual domains, too, order is the governing principle, not only in the artist's creativity but also in his way of life. Thus even this must be noted as a significant difference between businessman and artist: that the businessman learns and acquires order only on the path of egoism for personal concerns, whereas the artist also practices them for abstract reasons. — *
© Translation William Drabkin. |
30. I. 16 +1°;
graue Schneewolken am Himmel, auf Bäumen u. Dächern große Schneemassen – eine Winterlandschaft. *Die Sentenz der Bibel „Seid fruchtbar u. mehret Eeuch“ wiederholen die Reichen gerne, doch in anderem Sinne; sie geben den göttlichen Auftrag an die Armen weiter u. behalten sich selbst nur die Mehrung der Reichtümer vor, die sie dem Schutze der fruchtbaren Armen empfehlen. *Die die Macht besitzen tuscheln untereinander, man dürfe die Wahrheit über den Sinn des Lebens den Armen unten nicht verraten, man müsse sie im Irrtum lassen, damit sie das Leben im Dienste der Reichen erträglich finden. Nur denn, so meine ich, daß ähnliche Prozedur auch von unten hinauf gemacht werden könnte: {121} daß die unten in irgend einer Form ein unfreies Verhältnis der Oberen hervorrufen u. sich dabei nur hüten müssten, die Oberen darüber ins Klare kommen zu lassen. Liegt der ganze Witz der Ausnützung schließlich darin, daß man den Ausgenutzten nicht zum Bewußtsein des Sachverhaltes kommen läßt, so ist das umgekehrte Verfahren wohl auch denkbar, daß die Reichen einmal ausgenutzt werden, ohne daß man sie darüber zum Bewußtsein kommen ließe. — *Populäres Konzert: 1 Schumann: Rheinische Symphonie; kurzathmig, vielfach klaviristisch. Forçierte Künstlichkeit als Ersatz für natürlich geborene Länge, oft lyrisch kleinlich u. dennoch vielfach ergreifend vornehm, ja auch kühn. – Rich. Strauss: „Till Eulenspiegel“. Winiawski: Violinkonzert u.: Beethoven: Leonoren-Ouverture No. 2. *Ein Zeppelin über Paris!! 2 Vermutlich mene tekel u. Mahnung an die Franzosen, ihre Arroganz zum Teufel fahren zu lassen u. endlich ihre Unterlegenheit einzusehen. Wie schwierig geht doch die Erziehung der Menschheit vor sich, wenn der zur Erziehung berufene sich nicht nur mit der Macht des Geistes, sondern auch mit der Munition der Bomben legitimiren muß. Nicht Beispiel, nicht Ueberredung führen zum Ziele, lediglich Gewalt. Und so muss der Erzieher fast einen Widerspruch zu seiner Mission begehen u. Gewalt anwenden, wo er sie doch wahrlich lieber vermieden wissen möchte. — *„Ueber sich selbst erhoben“ drückt geradezu bildlich drastisch die Wirkung jeder reinen Hingabe u. Liebe aus, gleichviel ob sie sich auf Menschen oder Kunst bezieht. Der sich-Hingebende tritt eben über sich selbst hinaus! — *{122} Auch der Kaufmann liebt die Ordnung u. er preist die doppelte Buchhaltung (vgl. „Wilhelm Meister“ 3 I. Buch, 3. Kap.); nur weiß er nicht, daß auch für auf d ieen geistigen Gebieten Ordnung das herrschende Prinzip ist, sowohl im Schaffen, als im Lebenswandel der Künstler, so daß wieder als wesentlicher Unterschied zwischen Kaufmann u. Künstler eben dieses bezeichnet wirden werden muss, daß der Kaufmann nur auf dem Wege des Egoismus zu persönlichen Interessen die Ordnung kennen lernt u. erwirbt, während der Künstler sie auch aus abstrakten Gründen betreibt. — *
© Transcription Marko Deisinger. |
January 30, 1916, +1°;
gray snow clouds in the sky, large quantities of snow on the trees and roofs – a winter landscape. *The sentence in the Bible, "Be fruitful and multiply," is something the rich like to repeat, but understood in a different way; they pass the divine command on to the poor and only reserve the increase of riches for themselves, which they recommend for the protection of the fruitful poor. *Those who have power whisper among themselves: one should not divulge the truth about the meaning of the life of poor people below; one should keep them in the dark, so that they will find their life in the service of the rich bearable. If only, I say, a similar procedure could be invoked also from below, upwards, {121} so that those below could somehow perforce introduce a relationship of dependency in those above and thus guard against those above being aware of it. If the whole point of exploitation is ultimately not to let those who are being exploited become conscious of their situation, then the reverse procedure can surely also be imagined: that the rich will for once be exploited without their becoming conscious of it. — *Popular Concert: 1 Schumann's "Rhenish" Symphony; short-breathed, in many respects pianistic. Forced artificiality as a substitute for naturally born lengths, often with small-scale lyricism, and yet in many respects poignantly noble, even daring. – Richard Strauss's Till Eulenspiegel. Wieniawski's Violin Concerto, and Beethoven's Leonore Overture No. 2. *A zeppelin over Paris!! 2 Presumably the writing on the wall, and a warning to the French to abandon their arrogance to the devil and finally admit their inferiority. With what difficulty the education of humanity is proceeding if those who are called to education must legitimize themselves not only with the power of intellect but also with the ammunition of bombs. Neither setting an example nor persuasion will lead to the goal, only force. And so the educator must almost act in contradiction to his mission and apply force where he would really prefer to avoid using it. — *"Raised above oneself" is a thoroughly graphic way of expressing the effect of all pure love and devotion, whether it applies to people or to art. The person who is devoting himself verily steps outside and above himself! — *{122} The businessman, too, loves order; and he extols double-entry accounting (see Wilhelm Meister, 3 book I, chapter 3); but he doesn't know that in the intellectual domains, too, order is the governing principle, not only in the artist's creativity but also in his way of life. Thus even this must be noted as a significant difference between businessman and artist: that the businessman learns and acquires order only on the path of egoism for personal concerns, whereas the artist also practices them for abstract reasons. — *
© Translation William Drabkin. |
Footnotes1 The orchestra of the Vienna Concert Society, conducted by Martin Spörr, performed at the Konzerthaus in Vienna. Karl Berla was the violin soloist in Wieniawski's Concerto No. 2 in D minor, Op. 22. ("Theater- und Kunstnachrichten," Neue Freie Presse, No. 18476, January 29, 1916, morning edition, p. 13; database of the online archive of the Vienna Konzerthaus: https://konzerthaus.at/datenbanksuche). 2 "Zeppelin-Angriff auf Paris!," Neuigkeits-Welt-Blatt, January 30, 1916, 43rd year, extra edition, p. 1. 3 Wilhelm Meister: the protagonist in Goethe's series of Bildungsromane (novels of character formation): Wilhelm Meisters theatralische Sendung, Wilhelm Meisters Lehrjahre, and Wilhelm Meisters Wanderjahre. |