9. VII. 15

Die uns gestern gewordene Mitteilung, daß das Gewitter bei Pettneu einen Bahnschaden verursacht habe, lockt uns, diesen zu besichtigen. Des morgens ist der Charakter des Tages noch nicht entschieden; Nebel dampfen aus Wassern u. Wäldern, aus Schluchten u. Ritzen, ballen sich bald zu großen Massen um Berggipfel, die sie in die Mitte nehmen u. blos wie Kohlköpfe hervorleuchten lassen, bald ziehen sie dünngeschichtet durch die Athmosphäre, wie mit noch unbekanntem, unentschiedenem Ziel. Die Sonne ringt offensichtlich um ihre Autorität, doch ist’s vorerst noch fraglich, ob ihr diesmal die Bändigung der Nebel gelingen wird. Wir wandern durch das ganze Dorf Pettneu u. werden nicht müde, uns an einzelnen Zügen zu erfreuen, die, aus alten Zeiten stammend, von geduldige mrem Fleiß u. liebevollerer Versenkung zeugen, als sie heute in Dörfern u. bei Wohnhäusern solcher Art üblich sind. Hier entzückt uns ein prächtiger Giebel über einem Wirtshaus, hoch oben beinahe mit Wollust weit vorgelagert; dort ein künstlich gewundener Baumstamm als Stütze des Treppenaufganges, gewundene Fenstersäulchen, schön angebrachte Balkone, u. s. w. Auch hier ist wie in St. Anton erfreulicherweise steigender Wohlstand zu bemerken, der sich sowohl in den neuen Wohnhäusern, als in den Renovierungen alter ausdrückt. Besonders erfreulichen Eindruck machen die vielen Brunnen, die, gut gebaut, von Frauen, Mädchen u. Kindern allezeit förmlich umlagert sind. Wir treffen auch ziemlich viele Soldaten u. geraten mit einem ins Gespräch. Aus der Pressburger Gegend stammend gibt er sich für einen Slaven aus, der erst hier im Laufe von 1½ Monaten etwas Deutsch sprechen gelernt hat; das Ungarische kann er aber nicht. O, du armes Oesterreich! Da er deutsche Zeitungen nicht lesen kann, [illeg]slavische aber nicht vorhanden sind zu Gesicht bekommt, ist er auf Mitteilungen angewiesen, die ungarische Kameraden aus den ihnen zukommenden ungarischen Blättern hier schöpfen. Er focht, wie er erzählte, in Galizien u. machte den Rückzug in die Karpathen mit, wo er auch verwundet wurde, weiß aber den Namen seines eigenen Ober-Komman- {979} danten nicht anzugeben, trotzdem er die Char chge eines Korporals hat. —

Im Orte hören wir auch von einem Hellseher aus St. Jakob, der, von Beruf Bahnarbeiter, an Gesichten – wie die Wirtin sagt – buchstäblich leidet, so daß er sich schwer dazu entschließt „zu erzählen“. Obgleich auch schon die Wirtin zu sagen wußte, daß an all den aus seinem Munde stammenden Aussprüchen durchaus nicht alles wahr ist, hat sie uns gleichwohl als seinen neuesten Ausspruch mitgeteilt, daß eine große Ueberraschung für Monat August bevorstehe, u. daß schon Ende Oktober die ersten Gefangenen zurückkehren werden. Nun denn, die für August bevorstehende Ueberraschung scheint der wackere Hellseher aus dem „Tiroler Anzeiger“ einfach herausgelesen zu haben, wo sie schon gestern in der Form mitgeteilt wurde, daß der deutsche Kaiser mündlich Herrn Ganghofer eine große Ueberraschung mitteilte ankündigte. 1

Als wir auf dem Heimwege waren, schien es zuweilen, als käme ein Wind, der als kräftiger Büttel der Sonne die Macht hätte, die Nebel zu verjagen; aber schon da wir zuhause eintrafen merkten wir, daß auch heute, wie gestern u. vorgestern, der Regen das letzte Wort behalten werde. In der Tat brach das Unwetter, durch kurzen Donner eingeleitet, gegen ¾3h herein. Nun regnet es fort. —

In der Veranda des Wirtshaus in Pettneu sind unter Fresken die Worte zu lesen:

Das Leben ist ein Orchester,
Blase nur mit mein Bester;
Und halte Takt in Spiel u. Rast,
Wenn du auch nie ein Solo hast.

Wer nicht liebt Wein u. Gesang
Verdient ein Weib sein Leben lang.

*

Karte von Frau Deutsch. — Die „Frankfurter Ztg“ noch immer voller Lücken. — Odyssee, X. Gesang. 2

*

{980}

© Transcription Marko Deisinger.

July 9, 1915.

The report from yesterday that the storm damaged the railroad at Pettneu entices us to have a look. In the morning, the character of the day is not yet decided; mists created from waters and forests, from ravines and crevices, agglomerate quickly into great masses around the mountain peaks, which they seize in the middle and let them shine merely like cabbage heads; soon they pervade the atmosphere in thin layers, their goal as yet unknown, undecided. The sun struggles openly to assert its authority; but it is at first still questionable whether it will succeed in containing the mists. We walk through the entire village of Pettneu and do not tire of taking pleasure in individual traits which, originating in times gone by, bear witness to a more patient diligence and tender contemplation than one customarily finds in village houses of this sort. Here we were delighted by a magnificent gable above an inn, set far above almost in ecstasy; elsewhere an artistically turned tree trunk, used to support the stepped entrance; turned window columns, beautifully attached balconies, and so on. Here too, as in St. Anton, one can observe with pleasure a rising standard of living, which can be seen as much in the new homes as in the renovations of old ones. The many well-built fountains, at all times verily surrounded by women, girls and children, make a particularly pleasing impression. We also meet quite a few soldiers and fall into conversation with one of them. Coming from an area around Pressburg, he says that he is a Slav who has learned to speak a bit of German in the space of a month and a half here; but he does not know any Hungarian. O, you poor Austria! Since he cannot read German newspapers or get hold of any Slavic ones, he gets his information from what his Hungarian comrades get from the Hungarian newspapers available to them. He tells us that he fought in Galicia and joined the retreat in the Carpathian Mountains, where he was also wounded; but he is unable to tell us the name of his own commanding officer, {979} in spite of his having charge of a corporal. —

In the village we also hear about a clairvoyant from St. Jakob who, a railroad worker by profession, veritably suffers from visions – so the landlady says – so that he is determined, with difficulty, "to narrate." Although even the landlady was able to say that all the pronouncements coming from his mouth were by no means the whole truth, she nonetheless told us that, according to his latest pronouncement, a great surprise awaited us in the month of August, and that the first prisoners [of war] would be arriving home already by the end of October. Now, then, the imminent surprise in August seems to be something that the valiant clairvoyant had simply read in the Tiroler Anzeiger, where he was officially informed that the German emperor informed Mr. Ganghofer verbally of a great surprise. 1

While we were on our way home, it occasionally seemed as if a wind came which, as the sun's powerful beadle, had the power to drive away the mists; but as soon as we arrived home, we observed that today, too, like yesterday and the day before, the rain had the last word. In fact, the bad weather, introduced by a short period of thunder, arrived towards 2:45. Now it is still raining. —

In the porch of the inn in Pettneu, beneath frescoes, the following words appear:

Life is an orchestra,
Do join in, my friend;
And keep the rhythm when playing and resting,
Even if you never have a solo.

Anyone who does not love wine and singing
Deserves a wife for the whole of his life.

*

Postcard from Mrs. Deutsch. — The Frankfurter Zeitung still full of gaps. — Odyssey, book X. 2

*

{980}

© Translation William Drabkin.

9. VII. 15

Die uns gestern gewordene Mitteilung, daß das Gewitter bei Pettneu einen Bahnschaden verursacht habe, lockt uns, diesen zu besichtigen. Des morgens ist der Charakter des Tages noch nicht entschieden; Nebel dampfen aus Wassern u. Wäldern, aus Schluchten u. Ritzen, ballen sich bald zu großen Massen um Berggipfel, die sie in die Mitte nehmen u. blos wie Kohlköpfe hervorleuchten lassen, bald ziehen sie dünngeschichtet durch die Athmosphäre, wie mit noch unbekanntem, unentschiedenem Ziel. Die Sonne ringt offensichtlich um ihre Autorität, doch ist’s vorerst noch fraglich, ob ihr diesmal die Bändigung der Nebel gelingen wird. Wir wandern durch das ganze Dorf Pettneu u. werden nicht müde, uns an einzelnen Zügen zu erfreuen, die, aus alten Zeiten stammend, von geduldige mrem Fleiß u. liebevollerer Versenkung zeugen, als sie heute in Dörfern u. bei Wohnhäusern solcher Art üblich sind. Hier entzückt uns ein prächtiger Giebel über einem Wirtshaus, hoch oben beinahe mit Wollust weit vorgelagert; dort ein künstlich gewundener Baumstamm als Stütze des Treppenaufganges, gewundene Fenstersäulchen, schön angebrachte Balkone, u. s. w. Auch hier ist wie in St. Anton erfreulicherweise steigender Wohlstand zu bemerken, der sich sowohl in den neuen Wohnhäusern, als in den Renovierungen alter ausdrückt. Besonders erfreulichen Eindruck machen die vielen Brunnen, die, gut gebaut, von Frauen, Mädchen u. Kindern allezeit förmlich umlagert sind. Wir treffen auch ziemlich viele Soldaten u. geraten mit einem ins Gespräch. Aus der Pressburger Gegend stammend gibt er sich für einen Slaven aus, der erst hier im Laufe von 1½ Monaten etwas Deutsch sprechen gelernt hat; das Ungarische kann er aber nicht. O, du armes Oesterreich! Da er deutsche Zeitungen nicht lesen kann, [illeg]slavische aber nicht vorhanden sind zu Gesicht bekommt, ist er auf Mitteilungen angewiesen, die ungarische Kameraden aus den ihnen zukommenden ungarischen Blättern hier schöpfen. Er focht, wie er erzählte, in Galizien u. machte den Rückzug in die Karpathen mit, wo er auch verwundet wurde, weiß aber den Namen seines eigenen Ober-Komman- {979} danten nicht anzugeben, trotzdem er die Char chge eines Korporals hat. —

Im Orte hören wir auch von einem Hellseher aus St. Jakob, der, von Beruf Bahnarbeiter, an Gesichten – wie die Wirtin sagt – buchstäblich leidet, so daß er sich schwer dazu entschließt „zu erzählen“. Obgleich auch schon die Wirtin zu sagen wußte, daß an all den aus seinem Munde stammenden Aussprüchen durchaus nicht alles wahr ist, hat sie uns gleichwohl als seinen neuesten Ausspruch mitgeteilt, daß eine große Ueberraschung für Monat August bevorstehe, u. daß schon Ende Oktober die ersten Gefangenen zurückkehren werden. Nun denn, die für August bevorstehende Ueberraschung scheint der wackere Hellseher aus dem „Tiroler Anzeiger“ einfach herausgelesen zu haben, wo sie schon gestern in der Form mitgeteilt wurde, daß der deutsche Kaiser mündlich Herrn Ganghofer eine große Ueberraschung mitteilte ankündigte. 1

Als wir auf dem Heimwege waren, schien es zuweilen, als käme ein Wind, der als kräftiger Büttel der Sonne die Macht hätte, die Nebel zu verjagen; aber schon da wir zuhause eintrafen merkten wir, daß auch heute, wie gestern u. vorgestern, der Regen das letzte Wort behalten werde. In der Tat brach das Unwetter, durch kurzen Donner eingeleitet, gegen ¾3h herein. Nun regnet es fort. —

In der Veranda des Wirtshaus in Pettneu sind unter Fresken die Worte zu lesen:

Das Leben ist ein Orchester,
Blase nur mit mein Bester;
Und halte Takt in Spiel u. Rast,
Wenn du auch nie ein Solo hast.

Wer nicht liebt Wein u. Gesang
Verdient ein Weib sein Leben lang.

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Karte von Frau Deutsch. — Die „Frankfurter Ztg“ noch immer voller Lücken. — Odyssee, X. Gesang. 2

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© Transcription Marko Deisinger.

July 9, 1915.

The report from yesterday that the storm damaged the railroad at Pettneu entices us to have a look. In the morning, the character of the day is not yet decided; mists created from waters and forests, from ravines and crevices, agglomerate quickly into great masses around the mountain peaks, which they seize in the middle and let them shine merely like cabbage heads; soon they pervade the atmosphere in thin layers, their goal as yet unknown, undecided. The sun struggles openly to assert its authority; but it is at first still questionable whether it will succeed in containing the mists. We walk through the entire village of Pettneu and do not tire of taking pleasure in individual traits which, originating in times gone by, bear witness to a more patient diligence and tender contemplation than one customarily finds in village houses of this sort. Here we were delighted by a magnificent gable above an inn, set far above almost in ecstasy; elsewhere an artistically turned tree trunk, used to support the stepped entrance; turned window columns, beautifully attached balconies, and so on. Here too, as in St. Anton, one can observe with pleasure a rising standard of living, which can be seen as much in the new homes as in the renovations of old ones. The many well-built fountains, at all times verily surrounded by women, girls and children, make a particularly pleasing impression. We also meet quite a few soldiers and fall into conversation with one of them. Coming from an area around Pressburg, he says that he is a Slav who has learned to speak a bit of German in the space of a month and a half here; but he does not know any Hungarian. O, you poor Austria! Since he cannot read German newspapers or get hold of any Slavic ones, he gets his information from what his Hungarian comrades get from the Hungarian newspapers available to them. He tells us that he fought in Galicia and joined the retreat in the Carpathian Mountains, where he was also wounded; but he is unable to tell us the name of his own commanding officer, {979} in spite of his having charge of a corporal. —

In the village we also hear about a clairvoyant from St. Jakob who, a railroad worker by profession, veritably suffers from visions – so the landlady says – so that he is determined, with difficulty, "to narrate." Although even the landlady was able to say that all the pronouncements coming from his mouth were by no means the whole truth, she nonetheless told us that, according to his latest pronouncement, a great surprise awaited us in the month of August, and that the first prisoners [of war] would be arriving home already by the end of October. Now, then, the imminent surprise in August seems to be something that the valiant clairvoyant had simply read in the Tiroler Anzeiger, where he was officially informed that the German emperor informed Mr. Ganghofer verbally of a great surprise. 1

While we were on our way home, it occasionally seemed as if a wind came which, as the sun's powerful beadle, had the power to drive away the mists; but as soon as we arrived home, we observed that today, too, like yesterday and the day before, the rain had the last word. In fact, the bad weather, introduced by a short period of thunder, arrived towards 2:45. Now it is still raining. —

In the porch of the inn in Pettneu, beneath frescoes, the following words appear:

Life is an orchestra,
Do join in, my friend;
And keep the rhythm when playing and resting,
Even if you never have a solo.

Anyone who does not love wine and singing
Deserves a wife for the whole of his life.

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Postcard from Mrs. Deutsch. — The Frankfurter Zeitung still full of gaps. — Odyssey, book X. 2

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© Translation William Drabkin.

Footnotes

1 "Kaiser Wilhelm kündet eine Ueberrschaung," Allgemeiner Tiroler Anzeiger, No. 310, July 7, 1915, evening edition, p. 1.

2 Book X of The Odyssey describes Odysseus's stay with King Aeolus and his failed attempt to get to his homeland with the king's help.