27. VI. 15

Reise nach Kautzen! Wir treffen die Mama in relativ sehr gutem Zustand u., was noch entscheidender ist, die Stimmung Wilhelms bereits um vieles günstiger für sie disponiert. Worauf ich gerechnet habe ist nun eingetreten: Die Situation hat auch ihm gegenüber ihr Schwergewicht so geäußert, wie sie es all' die vielen Jahre her mir gegenüber geäußert hat. Er scheint sich mit dieser Aufgabe abgefunden zu haben u. aus so manchen Wendungen, die aus dem Munde seiner Frau u. des Adoptivsohnes kamen, konnte ich glücklicherweise entnehmen, daß man all die Schwierigkeiten, die die Mutter bereitet, richtigerweise aus dem Alterszustand herleitet, die er auch begreift u. zugleich entschuldigt. – Die Mutter selbst freilich ringt um ihr Letztes, um ihren Sterbeort, u. sie ringt mit derselben Leidenschaftlichkeit, mit der sie allezeit in den Kämpfen des Lebens um andere Ziele gerungen hat. Glücklich wäre ich, u. mit mir auch Lie-Liechen, wenn wir ihr diesen Wunsch so erfüllen könnten, wie sie ihn fasst. Aber wir selbst leiden unter Umständen, die auch ihrem Wunsche entgegenstehen. Und so lange wir nicht unsere eigenen Schwierigkeiten überwunden haben, dürfen wir nicht hoffen, die die Mutter be- {967} treffenden überwinden zu können. – Schrecklich ist der Anblick der geistigen Not, unter der die Mutter leidet; diese ist es, die sie zwingt, immer wieder Händel mit dem Gesinde zu suchen u. darunter zu leiden, daß sie es tun muß, wobei sie nicht ahnt, weshalb sie es tun muß.

Ich hatte den Eindruck, als hätte sich unsere Beziehung zu Wilhelm etwas gebessert u. wir fuhren, mit Hoffnung neu gestärkt, nachts heim.

*

© Transcription Marko Deisinger.

June 27, 1915.

Trip to Kautzen! We find Mama in relatively excellent health and, what is more important, Wilhelm's attitude much more favorably disposed towards her. That which I was counting on has now occurred: the situation has expressed its seriousness in the same way, even for him, as it had expressed it to me all those many years ago. He seems to have accepted his role; and from so many expressions uttered by his wife and adopted son, I could fortunately understand that all the difficulties that our mother creates are rightly derived from her old age, which he also understands and likewise excuses. – Our mother herself is struggling for the last part of her life, for the place where she will die, and she is struggling with the same passion with which she had struggled at all times of her life for other goals. I would be happy, and so would Lie-Liechen, too, if we could fulfill this wish for her as she understands it. But we ourselves are suffering under circumstances that are opposed even to her wish. And until we have overcome our own difficulties, we cannot hope to overcome those of my mother. {967} The spiritual hardship under which my mother is suffering is a terrible sight; this is what forces her always to seek altercations with those who are looking after her, and to suffer from being obliged to do what she does not understand why she must do it.

I had the impression that our relationship with Wilhelm had improved somewhat; and we travelled home at night, our hopes newly strengthened.

*

© Translation William Drabkin.

27. VI. 15

Reise nach Kautzen! Wir treffen die Mama in relativ sehr gutem Zustand u., was noch entscheidender ist, die Stimmung Wilhelms bereits um vieles günstiger für sie disponiert. Worauf ich gerechnet habe ist nun eingetreten: Die Situation hat auch ihm gegenüber ihr Schwergewicht so geäußert, wie sie es all' die vielen Jahre her mir gegenüber geäußert hat. Er scheint sich mit dieser Aufgabe abgefunden zu haben u. aus so manchen Wendungen, die aus dem Munde seiner Frau u. des Adoptivsohnes kamen, konnte ich glücklicherweise entnehmen, daß man all die Schwierigkeiten, die die Mutter bereitet, richtigerweise aus dem Alterszustand herleitet, die er auch begreift u. zugleich entschuldigt. – Die Mutter selbst freilich ringt um ihr Letztes, um ihren Sterbeort, u. sie ringt mit derselben Leidenschaftlichkeit, mit der sie allezeit in den Kämpfen des Lebens um andere Ziele gerungen hat. Glücklich wäre ich, u. mit mir auch Lie-Liechen, wenn wir ihr diesen Wunsch so erfüllen könnten, wie sie ihn fasst. Aber wir selbst leiden unter Umständen, die auch ihrem Wunsche entgegenstehen. Und so lange wir nicht unsere eigenen Schwierigkeiten überwunden haben, dürfen wir nicht hoffen, die die Mutter be- {967} treffenden überwinden zu können. – Schrecklich ist der Anblick der geistigen Not, unter der die Mutter leidet; diese ist es, die sie zwingt, immer wieder Händel mit dem Gesinde zu suchen u. darunter zu leiden, daß sie es tun muß, wobei sie nicht ahnt, weshalb sie es tun muß.

Ich hatte den Eindruck, als hätte sich unsere Beziehung zu Wilhelm etwas gebessert u. wir fuhren, mit Hoffnung neu gestärkt, nachts heim.

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© Transcription Marko Deisinger.

June 27, 1915.

Trip to Kautzen! We find Mama in relatively excellent health and, what is more important, Wilhelm's attitude much more favorably disposed towards her. That which I was counting on has now occurred: the situation has expressed its seriousness in the same way, even for him, as it had expressed it to me all those many years ago. He seems to have accepted his role; and from so many expressions uttered by his wife and adopted son, I could fortunately understand that all the difficulties that our mother creates are rightly derived from her old age, which he also understands and likewise excuses. – Our mother herself is struggling for the last part of her life, for the place where she will die, and she is struggling with the same passion with which she had struggled at all times of her life for other goals. I would be happy, and so would Lie-Liechen, too, if we could fulfill this wish for her as she understands it. But we ourselves are suffering under circumstances that are opposed even to her wish. And until we have overcome our own difficulties, we cannot hope to overcome those of my mother. {967} The spiritual hardship under which my mother is suffering is a terrible sight; this is what forces her always to seek altercations with those who are looking after her, and to suffer from being obliged to do what she does not understand why she must do it.

I had the impression that our relationship with Wilhelm had improved somewhat; and we travelled home at night, our hopes newly strengthened.

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© Translation William Drabkin.