30.
Das neue Bekenntnis für die Steuerbehörde pro 1915 ausgefertigt. — Extraausgaben melden große Erfolge in den Argonnen. *Nachträgliches zur „Armut“ 1 : Mit gutem Vorbedacht wird der Zimmerherr vom Dichter als ein „Student der Medizin“ bezeichnet. Er weiß also offenbar genau, wie gerade dieses Studium, derart wie es heute gbetrieben wird, nur meistens Menschen formt, denen Bildung , u. daher leider auch Güte fremd bleibt. Statt im Dienste des größten Wunders, das wir kennen, eben des menschlichen Körpers, die geistige Kraft zu schöpfen, um jede Verschiebung im Wunder aus den eigenen Gründen zu erfassen, abstrahieren die Studenten davon nur so etwas wie die jene Grammatik einer „toten Sprache“, die sie in den Mittelschulen auswendig memorier ent lernen haben. {852} Die Seele , als das Produkt des Körperwunders lassen sie stets außer Rechnung, u. so bewegen sie sich von früh bis abends u. von abends bis früh im Geleise von mechanische mn Stoffen Disziplinen, wodurch sie endlich selbst mechanisiert werden. Wie Ingenieure blos auf den Endeffekt des Geldverdienens hinaussteuern, so auch die Studenten der Medizin. Welche contradictio in adjecto, ein Mechanisches dort, wo der Mechanismus des Körpers das Transcendentale einer Seele zeitigt! Wenn die Tochter des Hauses sagt, daß sie gerade gegenüber dem Zimmerherrn, dem Studenten, nicht liebenswürdig sein dürfe, weil sie sonst Gefahr liefe, falsch von ihm mißverstanden zu werden, so ist damit beileibe nicht etwa eine allgemeine Ansicht des Dichters ausgesprochen, der dem Mädchen Unliebenswürdigkeit zur Pflicht machen würde; durchaus nicht! Die Pflicht zur Liebenswürdigkeit obliegt jedem Mädchen im Verkehre auch mit Männern; u. wenn ein Mädchen – wie ich es zuweilen auch schon selbst gehört habe – einen ähnlichen Gedanken, wie die Tochter des kleinen Staatsbeamten im Drama , des Dichters, ausspricht, so verrät sie nur die Armseligkeit ihres Wesens, ; denn mit anderen Worten gesteht sie ein, daß ihre gesellschaftliche Liebenswürdigkeit auch der HauptInhalt ihrer Liebe ist, was aber, vom Standpunkt der Liebe betrachtet, doch wohl viel zu wenig ist! Denn das Mädchen, das liebend nichts mehr zu geben hat , als blos Liebenswürdigkeit, kann ja auch sicher nicht lieben u. ist deshalb selbst auch der GegenLiebe nicht wert. *
© Transcription Marko Deisinger. |
30.
The new declaration for the tax authorities for the year 1915 completed. — Extra editions report great successes in the Argonne. *Further thoughts on Armut 1 : With good forethought, the lodger is portrayed by the playwright as a "medical student." He evidently knows well how precisely this study, as currently practiced, produces mainly people for whom culture – and therefore, unfortunately, kindness – is absent. Instead of creating mental strength in the service of the greatest miracle we know, that of the human body, in order to comprehend every aberration in the miracle on the basis of its own reasons, students abstract from it something like that grammar of a "dead language" which they have learned from memory in the middle schools. {852} The soul, as a product of the miracle of the body, is something they always leave out of the reckoning; and so they move from morning to evening and from evening to morning along the tracks of mechanical disciplines, as a result of which they themselves become mechanized. As engineers navigate their way towards the end effect of earning money, so it is with students of medicine. What a contradiction in terms: a mechanical thing there, where the mechanism of the body brings forth the transcendentalism of the soul! When the daughter of the house says that she herself should not show friendliness precisely with respect to the lodge (the student), lest she risked being misunderstood by him, this is by no means the expression of a general view of the poet, who would make discourtesy the girl's duty; far from it! The duty of amiability is every girl's responsibility even in her association with men; and if a girl – as I have even heard myself, from time to time – expresses a similar thought to that of the state official's daughter in the playwright's drama, then she is merely betraying the wretchedness of her being; for she is admitting, in other words, that societal amiability is also the principal ingredient of her love – something however which, viewed from the standpoint of love, is surely much too little! For a girl who has nothing more to give lovingly than mere amiability is, for sure, incapable of love and is therefore also unworthy of being loved in return. *
© Translation William Drabkin. |
30.
Das neue Bekenntnis für die Steuerbehörde pro 1915 ausgefertigt. — Extraausgaben melden große Erfolge in den Argonnen. *Nachträgliches zur „Armut“ 1 : Mit gutem Vorbedacht wird der Zimmerherr vom Dichter als ein „Student der Medizin“ bezeichnet. Er weiß also offenbar genau, wie gerade dieses Studium, derart wie es heute gbetrieben wird, nur meistens Menschen formt, denen Bildung , u. daher leider auch Güte fremd bleibt. Statt im Dienste des größten Wunders, das wir kennen, eben des menschlichen Körpers, die geistige Kraft zu schöpfen, um jede Verschiebung im Wunder aus den eigenen Gründen zu erfassen, abstrahieren die Studenten davon nur so etwas wie die jene Grammatik einer „toten Sprache“, die sie in den Mittelschulen auswendig memorier ent lernen haben. {852} Die Seele , als das Produkt des Körperwunders lassen sie stets außer Rechnung, u. so bewegen sie sich von früh bis abends u. von abends bis früh im Geleise von mechanische mn Stoffen Disziplinen, wodurch sie endlich selbst mechanisiert werden. Wie Ingenieure blos auf den Endeffekt des Geldverdienens hinaussteuern, so auch die Studenten der Medizin. Welche contradictio in adjecto, ein Mechanisches dort, wo der Mechanismus des Körpers das Transcendentale einer Seele zeitigt! Wenn die Tochter des Hauses sagt, daß sie gerade gegenüber dem Zimmerherrn, dem Studenten, nicht liebenswürdig sein dürfe, weil sie sonst Gefahr liefe, falsch von ihm mißverstanden zu werden, so ist damit beileibe nicht etwa eine allgemeine Ansicht des Dichters ausgesprochen, der dem Mädchen Unliebenswürdigkeit zur Pflicht machen würde; durchaus nicht! Die Pflicht zur Liebenswürdigkeit obliegt jedem Mädchen im Verkehre auch mit Männern; u. wenn ein Mädchen – wie ich es zuweilen auch schon selbst gehört habe – einen ähnlichen Gedanken, wie die Tochter des kleinen Staatsbeamten im Drama , des Dichters, ausspricht, so verrät sie nur die Armseligkeit ihres Wesens, ; denn mit anderen Worten gesteht sie ein, daß ihre gesellschaftliche Liebenswürdigkeit auch der HauptInhalt ihrer Liebe ist, was aber, vom Standpunkt der Liebe betrachtet, doch wohl viel zu wenig ist! Denn das Mädchen, das liebend nichts mehr zu geben hat , als blos Liebenswürdigkeit, kann ja auch sicher nicht lieben u. ist deshalb selbst auch der GegenLiebe nicht wert. *
© Transcription Marko Deisinger. |
30.
The new declaration for the tax authorities for the year 1915 completed. — Extra editions report great successes in the Argonne. *Further thoughts on Armut 1 : With good forethought, the lodger is portrayed by the playwright as a "medical student." He evidently knows well how precisely this study, as currently practiced, produces mainly people for whom culture – and therefore, unfortunately, kindness – is absent. Instead of creating mental strength in the service of the greatest miracle we know, that of the human body, in order to comprehend every aberration in the miracle on the basis of its own reasons, students abstract from it something like that grammar of a "dead language" which they have learned from memory in the middle schools. {852} The soul, as a product of the miracle of the body, is something they always leave out of the reckoning; and so they move from morning to evening and from evening to morning along the tracks of mechanical disciplines, as a result of which they themselves become mechanized. As engineers navigate their way towards the end effect of earning money, so it is with students of medicine. What a contradiction in terms: a mechanical thing there, where the mechanism of the body brings forth the transcendentalism of the soul! When the daughter of the house says that she herself should not show friendliness precisely with respect to the lodge (the student), lest she risked being misunderstood by him, this is by no means the expression of a general view of the poet, who would make discourtesy the girl's duty; far from it! The duty of amiability is every girl's responsibility even in her association with men; and if a girl – as I have even heard myself, from time to time – expresses a similar thought to that of the state official's daughter in the playwright's drama, then she is merely betraying the wretchedness of her being; for she is admitting, in other words, that societal amiability is also the principal ingredient of her love – something however which, viewed from the standpoint of love, is surely much too little! For a girl who has nothing more to give lovingly than mere amiability is, for sure, incapable of love and is therefore also unworthy of being loved in return. *
© Translation William Drabkin. |
Footnotes1 Anton Wildgans, Armut (Leipzig: Staackmann, 1914). Schenker sah Wildgans Trauerspiel am 25. Januar 1915 im Deutschen Volkstheater (see diary entry for that day). |