3. XII. 14
Mit Lie-Liechen zu Mama; Lie-Liechen bringt Taschentücher mit Chiffre J. S., die willkommene Gelegenheit zu Betrachtungen, wie J. S. = Julie Schenker, Johann Schenker, gibt. Dort treffen wir auch Sophie an, die uns augenblicklich in so manchen Dingen gute Dienste leistet. *Lie-Liechen an die „N. Fr. Pr.“ 20 Kr., 1 an die Tee-Aktion 2 Kr. *An Sophie Karte vom Schwager, die wieder Unruhe zeigt. Ich kann indessen nicht annehmen, daß die Regierung engagierte Aerzte ohneweitere ohne weitere Kündigung auf die Straße setzt. *Der Engländer ist so bösartig u. borniert, daß am schwersten wohl eben er selbst daran glauben kann, wie bösartig er sei. Und nur dies allein ist der Grund, weshalb er sich für korrekt hält. Nebenbei gesagt ist dies die Lösung des Rätsels sämtlicher Einbildungen: nur weil die Menschen sich selbst nicht für so jämmerlich halten können, als sie wirklich sind, nur deshalb halten sie sich für besser. *Allerorten wird heutzutage Bismarck kopiert; jeder Schmierfink u. Sudler gefällt sich darin, den genialen Schachzug Bismarcks zu wiederholen, mit dem er Oesterreich als Bundesgenossen gewann, nachdem er vorher den Feldzug gegen Oe. gewonnen. Die Schmierer denken nun: was damals gut u. praktisch war, hat offenbar praktische Giltigkeit auch in allen anderen Fällen, u. so bereiten sie gleichsam hinter dem Rücken des Krieges ein herzliches Einvernehmen mit den Gegnern vor. So begreifen Tölpel u. Narren ein Genie! Als ob es Bismarck je eingefallen wäre, einen Bündnisantrag sagen wir an Frankreich zu machen! Warum tat er es nicht, müßten sich ja die Sudler fragen? {793} Die Antwort, die sie sich zu geben hätten, müßte ihnen aber auch Aufklärung bieten, weshalb es Situationen u. Personen, Nationen u. Rassen gibt, auf die ein an anderer Stelle gemachter Zug aus besonderen Gründen nicht wieder angewendet werden darf. Es gibt kann eben keinen Bund zwischen Frankreich u. Deutschland geben. Aber die Milben kopieren das Genie u. entpuppen sich überdies als Affen! *Vor vielen Jahren hörte ich deinen brillianten Witz, der dem verstorbenen Dirigenten des Hofburg-Theaters, Prof. Sulzer zugeschrieben wurde. Eines nachts [sic] ging er vom Caféhaus die Kärntnerstraße entlang nachhause. Aus irgend einem Grunde kam es dazu, daß eine Prostituierte ihm auf der Straße zurief: „Saujud’“, worauf er mit bravouröser Schlagfertigkeit erwiderte: „Nicht jeder kann eine Hur’ sein.“ – Der Ueberhebung der Engländer gegenüber müßten die Deutschen im Sinne Sulzers eigentlich sagen: „Nicht jeder kann ein Engländer , sein.“ d. h. blos ein Krämer sein.“ *Ein Beitrag zur Hygiene: Es ist offenbar Wille der Natur, daß zum Schutze wider den Schmutz zuweilen wieder auch Schmutz herangezogen werde. So gut Menschen die schönsten Träume in Kunstwerken u. Taten träumen, obgleich sie Fäkalien u. Winde mit sich führen, so gut gedeiht auch die Poesie der Reinlichkeit vielleicht bei einigem Mangel an hygienischer Pedanterie. So gut Bazillen wider Bazillen kämpfen u. gerade dadurch unsere Gesundheit zubereiten, genau so mögen Infusorien des Schmutzes wider andere Eindringlinge uns immun machen. Kurz u. gut, eine Hygiene, die darauf ausgeht , absolute Reinlichkeit zu erzielen, dürfte in ihrer Uebertreibung genau so verwerflich sein, wie etwa die Forderung, daß, wer seine Gesundheit erhalten will, partout nicht unter 1500 m sein Leben zubringen darf. Es scheint vielmehr eine Art Mischung den Menschen am zuträglichsten zu sein. *Die Menschen sind nun einmal so beschaffen, daß sie sich weit weniger darüber kränken, daß der Nebenmensch nichts zu essen hat, dagegen viel mehr, wenn er mehr zu essen hat. *{794} © Transcription Marko Deisinger. |
December 3, 1914.
With Lie-Liechen to Mama; Lie-Liechen brings handkerchiefs with the monogram J. S., which offers welcome opportunity for reflections, such as J. S. = Julia Schenker, Johann Schenker. There we also encounter Sophie who at the moment is helping us out in many respects. *Lie-Liechen sends 20 Kronen to the Neue freie Presse , 1 and donates 2 Kronen to the tea initiative. *To Sophie, postcard from my brother-in-law, which again shows agitation. I cannot, however, accept that the government will throw employed doctors onto the street without further notice. *The Englishman is so malicious and narrow-minded, that even he has a difficult time in believing how malicious he is. And this alone is the reason why he regards himself as upright. It may be said in passing that this is the solution to the puzzle of all vanities: only because people are unable to regard themselves as despicable they really are, only for this reason do they regard themselves as better. *Nowadays Bismarck is imitated everywhere; every journalistic hack and scribbler takes pleasure in repeating Bismarck's ingenious chess move, by which he won Austria as an ally, after he had previously defeated Austria on the battlefield. The scribblers now think: what was then good and practical apparently has practical applications also in every other case, and so they prepare the way for a cordial agreement with their opponents, as if behind the back of the war. This is how fools and idiots understand a genius! As if it ever occurred to Bismarck to propose and alliance with, say, France! Why did he not do this, the scribblers ask? {793} The answer which they should have given would, however, also offered them an explanation as to why there are situations and people, nations, and races with whom, for specific reasons, a move made in other circumstances should not be repeated. There simply cannot be an alliance between France and Germany. But the mites copy the genius, and, moreover, turn out to be apes! *Many years ago I heard a brilliant joke, which was attributed to the late Prof. Sulzer, a conductor at the Court Theater. One evening he was walking along the Kärntnerstraße on his way home from a coffee house, when for some reason a prostitute happened to shout at him on the street: "Pig Jew!", whereupon he replied with masterful quick-wittedness: "Not everyone can be a whore." – Confronted by the arrogance of the English, the Germans would actually have to say, along Sulzer's lines: "Not everyone can be an Englishman, i. e. merely a businessman." *A contribution to the subject of hygiene: It is apparently the will of nature that dirt itself is often called upon for protection against dirt. As much as people dream the most beautiful dreams in works of art and deeds, although they bear feces and wind along with them, so much does the poetry of cleanliness perhaps thrive also on a certain lack of hygienic pedantry. As much as bacilli fight against bacilli and promote our health in precisely this way, in just this way infusions of dirt make us immune to other intruders. In short, a hygiene based on the principle of achieving absolute cleanliness may, in its exaggeration, be just as objectionable as the demand, say, that anyone who wishes to preserve his good health should not spend any part of his life below 1,500 meters above sea level. There appears, rather, to be a kind of mixture that is most congenial to people. *People are constituted in such a way that they complain far less that their neighbor has nothing to eat, but rather much more if he has more to eat [than they do]. *{794} © Translation William Drabkin. |
3. XII. 14
Mit Lie-Liechen zu Mama; Lie-Liechen bringt Taschentücher mit Chiffre J. S., die willkommene Gelegenheit zu Betrachtungen, wie J. S. = Julie Schenker, Johann Schenker, gibt. Dort treffen wir auch Sophie an, die uns augenblicklich in so manchen Dingen gute Dienste leistet. *Lie-Liechen an die „N. Fr. Pr.“ 20 Kr., 1 an die Tee-Aktion 2 Kr. *An Sophie Karte vom Schwager, die wieder Unruhe zeigt. Ich kann indessen nicht annehmen, daß die Regierung engagierte Aerzte ohneweitere ohne weitere Kündigung auf die Straße setzt. *Der Engländer ist so bösartig u. borniert, daß am schwersten wohl eben er selbst daran glauben kann, wie bösartig er sei. Und nur dies allein ist der Grund, weshalb er sich für korrekt hält. Nebenbei gesagt ist dies die Lösung des Rätsels sämtlicher Einbildungen: nur weil die Menschen sich selbst nicht für so jämmerlich halten können, als sie wirklich sind, nur deshalb halten sie sich für besser. *Allerorten wird heutzutage Bismarck kopiert; jeder Schmierfink u. Sudler gefällt sich darin, den genialen Schachzug Bismarcks zu wiederholen, mit dem er Oesterreich als Bundesgenossen gewann, nachdem er vorher den Feldzug gegen Oe. gewonnen. Die Schmierer denken nun: was damals gut u. praktisch war, hat offenbar praktische Giltigkeit auch in allen anderen Fällen, u. so bereiten sie gleichsam hinter dem Rücken des Krieges ein herzliches Einvernehmen mit den Gegnern vor. So begreifen Tölpel u. Narren ein Genie! Als ob es Bismarck je eingefallen wäre, einen Bündnisantrag sagen wir an Frankreich zu machen! Warum tat er es nicht, müßten sich ja die Sudler fragen? {793} Die Antwort, die sie sich zu geben hätten, müßte ihnen aber auch Aufklärung bieten, weshalb es Situationen u. Personen, Nationen u. Rassen gibt, auf die ein an anderer Stelle gemachter Zug aus besonderen Gründen nicht wieder angewendet werden darf. Es gibt kann eben keinen Bund zwischen Frankreich u. Deutschland geben. Aber die Milben kopieren das Genie u. entpuppen sich überdies als Affen! *Vor vielen Jahren hörte ich deinen brillianten Witz, der dem verstorbenen Dirigenten des Hofburg-Theaters, Prof. Sulzer zugeschrieben wurde. Eines nachts [sic] ging er vom Caféhaus die Kärntnerstraße entlang nachhause. Aus irgend einem Grunde kam es dazu, daß eine Prostituierte ihm auf der Straße zurief: „Saujud’“, worauf er mit bravouröser Schlagfertigkeit erwiderte: „Nicht jeder kann eine Hur’ sein.“ – Der Ueberhebung der Engländer gegenüber müßten die Deutschen im Sinne Sulzers eigentlich sagen: „Nicht jeder kann ein Engländer , sein.“ d. h. blos ein Krämer sein.“ *Ein Beitrag zur Hygiene: Es ist offenbar Wille der Natur, daß zum Schutze wider den Schmutz zuweilen wieder auch Schmutz herangezogen werde. So gut Menschen die schönsten Träume in Kunstwerken u. Taten träumen, obgleich sie Fäkalien u. Winde mit sich führen, so gut gedeiht auch die Poesie der Reinlichkeit vielleicht bei einigem Mangel an hygienischer Pedanterie. So gut Bazillen wider Bazillen kämpfen u. gerade dadurch unsere Gesundheit zubereiten, genau so mögen Infusorien des Schmutzes wider andere Eindringlinge uns immun machen. Kurz u. gut, eine Hygiene, die darauf ausgeht , absolute Reinlichkeit zu erzielen, dürfte in ihrer Uebertreibung genau so verwerflich sein, wie etwa die Forderung, daß, wer seine Gesundheit erhalten will, partout nicht unter 1500 m sein Leben zubringen darf. Es scheint vielmehr eine Art Mischung den Menschen am zuträglichsten zu sein. *Die Menschen sind nun einmal so beschaffen, daß sie sich weit weniger darüber kränken, daß der Nebenmensch nichts zu essen hat, dagegen viel mehr, wenn er mehr zu essen hat. *{794} © Transcription Marko Deisinger. |
December 3, 1914.
With Lie-Liechen to Mama; Lie-Liechen brings handkerchiefs with the monogram J. S., which offers welcome opportunity for reflections, such as J. S. = Julia Schenker, Johann Schenker. There we also encounter Sophie who at the moment is helping us out in many respects. *Lie-Liechen sends 20 Kronen to the Neue freie Presse , 1 and donates 2 Kronen to the tea initiative. *To Sophie, postcard from my brother-in-law, which again shows agitation. I cannot, however, accept that the government will throw employed doctors onto the street without further notice. *The Englishman is so malicious and narrow-minded, that even he has a difficult time in believing how malicious he is. And this alone is the reason why he regards himself as upright. It may be said in passing that this is the solution to the puzzle of all vanities: only because people are unable to regard themselves as despicable they really are, only for this reason do they regard themselves as better. *Nowadays Bismarck is imitated everywhere; every journalistic hack and scribbler takes pleasure in repeating Bismarck's ingenious chess move, by which he won Austria as an ally, after he had previously defeated Austria on the battlefield. The scribblers now think: what was then good and practical apparently has practical applications also in every other case, and so they prepare the way for a cordial agreement with their opponents, as if behind the back of the war. This is how fools and idiots understand a genius! As if it ever occurred to Bismarck to propose and alliance with, say, France! Why did he not do this, the scribblers ask? {793} The answer which they should have given would, however, also offered them an explanation as to why there are situations and people, nations, and races with whom, for specific reasons, a move made in other circumstances should not be repeated. There simply cannot be an alliance between France and Germany. But the mites copy the genius, and, moreover, turn out to be apes! *Many years ago I heard a brilliant joke, which was attributed to the late Prof. Sulzer, a conductor at the Court Theater. One evening he was walking along the Kärntnerstraße on his way home from a coffee house, when for some reason a prostitute happened to shout at him on the street: "Pig Jew!", whereupon he replied with masterful quick-wittedness: "Not everyone can be a whore." – Confronted by the arrogance of the English, the Germans would actually have to say, along Sulzer's lines: "Not everyone can be an Englishman, i. e. merely a businessman." *A contribution to the subject of hygiene: It is apparently the will of nature that dirt itself is often called upon for protection against dirt. As much as people dream the most beautiful dreams in works of art and deeds, although they bear feces and wind along with them, so much does the poetry of cleanliness perhaps thrive also on a certain lack of hygienic pedantry. As much as bacilli fight against bacilli and promote our health in precisely this way, in just this way infusions of dirt make us immune to other intruders. In short, a hygiene based on the principle of achieving absolute cleanliness may, in its exaggeration, be just as objectionable as the demand, say, that anyone who wishes to preserve his good health should not spend any part of his life below 1,500 meters above sea level. There appears, rather, to be a kind of mixture that is most congenial to people. *People are constituted in such a way that they complain far less that their neighbor has nothing to eat, but rather much more if he has more to eat [than they do]. *{794} © Translation William Drabkin. |
Footnotes1 Jeanette's contribution of 2 x 10 Kronen appeared three days later, in "Sammlung der „Neuen Freien Presse“ für den Witwen- und Waisenhilfsfonds der gesamten bewaffneten Macht" and "Sammlung der „Neuen Freien Presse“ für die armen Flüchtlinge aus Galizien und der Bukowina," Neue Freie Presse, No. 18063, December 6, 1914, morning edition, pp. 9–10. |