13. IX. 14
Die Aufregung des gestrigen Tages hat mich Folgendes träumen lassen: Ich treffe Dr. Ludwig Gelber in Uniform mit Frau, die ich nicht erkenne. Ich frage ihn, was seine Uniform zu bedeuten habe, worauf er erwidert „es steht nicht gut um unsere Armee.“ Unter dem Eindruck dieser Worte erwachte ich plötzlich mit einem Schmerz, wie man ihn empfindet, wenn man von Tod oder Stürzen Sturz träumt. Es war ¼4h u. ich konnte nicht wieder ruhig einschlafen. *Morgenblätter bringen keine bestimmten Nachrichten aus Lemberg. Es regnet in Strömen! *Es ist töricht von den Menschen, von der feindlichen Kugel mehr Raison zu verlangen, als von der eigenen Regierung. Hat diese den Krieg nicht zu verhindern gewußt u. so meistens doch durch falsche Maßnahmen im Frieden die Untertanen geschädigt, dann ergänzt eben der Feind das Irrationale u. seine Kugel macht weiter keine Unterschiede. *Um die Mittagszeit melden Extraausgaben einen großen Erfolg um Lemberg, 1 sowie einen Sieg Hindenburgs. 2 Der Lemberger Erfolg äußert sich in einer stattlichen Gefangenen-Ziffer, im übrigen mußten die Truppen noch weiter zurück. Vermutlich machen sie erst „im Abschnitt“ bei Przemysl Halt u. bis dahin kann vielleicht die deutsche Armee einen stärkeren Succurs leisten. Hindenburgs Ueberschreitung der Grenze hat vielleicht zunächst mehr moralischen als strategischen Wert; ihm geht allerbester Ruf voraus, der den Feind von vornherein niederwirft. *Im Caféhaus treffen wir einen Piloten, der nach der Herzegowina beordert wurde. Seine Stimmung war zuversichtlich u. in Widerspruch zu den Angaben des Generalstabs bestand er darauf, daß die Russen in Lemberg nicht einzogen. 3 — Plötzlich holt uns Floriz im Café Siller ab. Dort reißt mich die Sache wieder hin, etwas von der Disziplin der Kultur u. Bewertung der Rassen zu sprechen; ich achte nicht der Empfänger {703} u. verliere über der Hast beinahe den Athem. Es ist aber Alles vergebens! Es begnügt sich der Mensch gerne mit dem ersten Stadium des Selbstbewußtseins, indem er einfach nur von sich selbst eingenommen ist. Da dazu weiter nichts als eben nur Dummheit u. Unbildung gehört, so leistet sich diese Eitelkeit jeder Durchschnittsmensch zu allererst. Den ersten Schritt aber nach vorne zu machen, d. h. um zu wissen, wer er sei, u. um jedenfalls zu wissen, was er nicht ist, müßte er ja eben mehr wissen. Diese Anstrengung aber meidet er, weil er ihrer vielleicht gar nicht fähig ist u. betrachtet sich, wie die übrige Welt, blos mit der Brille der Eitelkeit, die nur in Hinsicht seiner selbst ein Vergrößerungsglas ist, in Hinsicht der übrigen Welt aber ein Verkleinerungsglas. — Im selben Caféhaus treffe ich auch Fritz Kreißler mit Frau u. Schwester, der als Verwundeter in häuslicher Pflege sich befindet. Der Krieg hat ihn nicht im geringsten geändert; affektiertes Blinzeln u. das Tragen der geistigen Schleppe seiner Frau, kurz, alle Eigenschaften blieben unverändert. Aus purem Uebermut u. scheinbar unabsichtlich habe ich, die englisch-amerikanische Abstammung seiner Frau fest im Auge haltend, den Satz gewagt, daß die Engländer Alles auf dem Gewissen haben. darauf sprang Frau Kr. gleich in die Front: man solle das nicht sagen, alle haben sie an Größenwahn gelitten, alle, auch die Deutschen u. s. w. Es wäre schon längst in der Luft gelegen. Wie immer nur auf das Geschäftsinteresse des Gatten allein konzentriert, hat des Künstlers Gattin schon jetzt eine Brücke zu den künftigen Londoner Konzertsälen ihres Gatten schlagen wollen! Ich verließ das unerquickliche Ehepaar gleich. *
© Transcription Marko Deisinger. |
September 13, 1914.
The excitement of the previous day led me to dream the following: I meet Dr. Ludwig Gelber in uniform with his wife, whom I do not recognize. I ask him what his uniform may mean, whereupon he replies, "Things are not going well with our army." Under the impression of these words, I suddenly awoke with the sort of pain one feels when one dreams of death, or a fall. It was 3:15, and I could not fall asleep peacefully again. *Morning papers bring no definite news from Lemberg. It is pouring with rain! *It is foolish to demand more justification from an enemy bullet than from one's own government. If the latter was unable to prevent the war, and harmed its subjects by taking wrong actions in peacetime, then even the enemy will add to the irrationally, and his bullet will make no further differences. *Around midday, extra editions report a great success around Lemberg, 1 and also a victory for Hindenburg. 2 The Lemberg success is expressed by a substantial number of prisoners taken; however, the troops had to pull back still further. Perhaps they will first stop "for a period" at Przemysl, and at that point the German army might be able to provide stronger support. Hindenburg's crossing of the border at first has perhaps more moral than strategic value; he is preceded by the very best reputation, which will crush the enemy at the outset. *In the coffee house we meet a pilot who has been ordered to Herzegovina. His mood was confident; and in contradiction to the declarations from the general staff, he maintained that the Russians had not entered Lemberg. 3 — Suddenly Floriz catches up with us at the Café Siller. There I again get carried away in saying something about the discipline of culture and the evaluation of the races; I was not attentive to the recipients {703} and nearly lost my breath in my hurriedness. But everything was in vain! People will gladly content themselves in the first state of their self-consciousness, insofar as they are taken in only by themselves. Since nothing further belongs to this than mere stupidity and ignorance, then any mediocre person can afford this vanity first and foremost. But in order to take the first step forwards, i.e. to know who he is and in any event to know who he is not, he actually needs to know more. This effort, however, he avoids, probably because he is incapable of doing so; and he contemplates himself, and the rest of the word, merely through the spectacles of vanity, which from his own point of view is a magnifying glass, but with respect to the rest of the world is a diminishing glass. — At the same coffee house, I also meet Fritz Kreisler – with his wife and sister – who, as wounded [soldier], is currently in domiciliary care. The war has not changed him in the least: affected blinking, and carrying the intellectual train of his wife; in short, all his characteristics remain unchanged. Just to be difficult, and pretending to do so unintentionally – and with his wife's English-American background firmly in mind – I dared to say that the English have everything on their conscience. Whereupon Mrs. Kreisler sprang into action immediately, arguing that one ought not say such a thing, that they have all suffered from megalomania, everyone, including the Germans, etc., and that it would have long been obvious. As always, concerned only about the business interests of her husband, the artist's wife had wanted even now to build a bridge to her husband's future London concerts! I left the unpleasant couple immediately. *
© Translation William Drabkin. |
13. IX. 14
Die Aufregung des gestrigen Tages hat mich Folgendes träumen lassen: Ich treffe Dr. Ludwig Gelber in Uniform mit Frau, die ich nicht erkenne. Ich frage ihn, was seine Uniform zu bedeuten habe, worauf er erwidert „es steht nicht gut um unsere Armee.“ Unter dem Eindruck dieser Worte erwachte ich plötzlich mit einem Schmerz, wie man ihn empfindet, wenn man von Tod oder Stürzen Sturz träumt. Es war ¼4h u. ich konnte nicht wieder ruhig einschlafen. *Morgenblätter bringen keine bestimmten Nachrichten aus Lemberg. Es regnet in Strömen! *Es ist töricht von den Menschen, von der feindlichen Kugel mehr Raison zu verlangen, als von der eigenen Regierung. Hat diese den Krieg nicht zu verhindern gewußt u. so meistens doch durch falsche Maßnahmen im Frieden die Untertanen geschädigt, dann ergänzt eben der Feind das Irrationale u. seine Kugel macht weiter keine Unterschiede. *Um die Mittagszeit melden Extraausgaben einen großen Erfolg um Lemberg, 1 sowie einen Sieg Hindenburgs. 2 Der Lemberger Erfolg äußert sich in einer stattlichen Gefangenen-Ziffer, im übrigen mußten die Truppen noch weiter zurück. Vermutlich machen sie erst „im Abschnitt“ bei Przemysl Halt u. bis dahin kann vielleicht die deutsche Armee einen stärkeren Succurs leisten. Hindenburgs Ueberschreitung der Grenze hat vielleicht zunächst mehr moralischen als strategischen Wert; ihm geht allerbester Ruf voraus, der den Feind von vornherein niederwirft. *Im Caféhaus treffen wir einen Piloten, der nach der Herzegowina beordert wurde. Seine Stimmung war zuversichtlich u. in Widerspruch zu den Angaben des Generalstabs bestand er darauf, daß die Russen in Lemberg nicht einzogen. 3 — Plötzlich holt uns Floriz im Café Siller ab. Dort reißt mich die Sache wieder hin, etwas von der Disziplin der Kultur u. Bewertung der Rassen zu sprechen; ich achte nicht der Empfänger {703} u. verliere über der Hast beinahe den Athem. Es ist aber Alles vergebens! Es begnügt sich der Mensch gerne mit dem ersten Stadium des Selbstbewußtseins, indem er einfach nur von sich selbst eingenommen ist. Da dazu weiter nichts als eben nur Dummheit u. Unbildung gehört, so leistet sich diese Eitelkeit jeder Durchschnittsmensch zu allererst. Den ersten Schritt aber nach vorne zu machen, d. h. um zu wissen, wer er sei, u. um jedenfalls zu wissen, was er nicht ist, müßte er ja eben mehr wissen. Diese Anstrengung aber meidet er, weil er ihrer vielleicht gar nicht fähig ist u. betrachtet sich, wie die übrige Welt, blos mit der Brille der Eitelkeit, die nur in Hinsicht seiner selbst ein Vergrößerungsglas ist, in Hinsicht der übrigen Welt aber ein Verkleinerungsglas. — Im selben Caféhaus treffe ich auch Fritz Kreißler mit Frau u. Schwester, der als Verwundeter in häuslicher Pflege sich befindet. Der Krieg hat ihn nicht im geringsten geändert; affektiertes Blinzeln u. das Tragen der geistigen Schleppe seiner Frau, kurz, alle Eigenschaften blieben unverändert. Aus purem Uebermut u. scheinbar unabsichtlich habe ich, die englisch-amerikanische Abstammung seiner Frau fest im Auge haltend, den Satz gewagt, daß die Engländer Alles auf dem Gewissen haben. darauf sprang Frau Kr. gleich in die Front: man solle das nicht sagen, alle haben sie an Größenwahn gelitten, alle, auch die Deutschen u. s. w. Es wäre schon längst in der Luft gelegen. Wie immer nur auf das Geschäftsinteresse des Gatten allein konzentriert, hat des Künstlers Gattin schon jetzt eine Brücke zu den künftigen Londoner Konzertsälen ihres Gatten schlagen wollen! Ich verließ das unerquickliche Ehepaar gleich. *
© Transcription Marko Deisinger. |
September 13, 1914.
The excitement of the previous day led me to dream the following: I meet Dr. Ludwig Gelber in uniform with his wife, whom I do not recognize. I ask him what his uniform may mean, whereupon he replies, "Things are not going well with our army." Under the impression of these words, I suddenly awoke with the sort of pain one feels when one dreams of death, or a fall. It was 3:15, and I could not fall asleep peacefully again. *Morning papers bring no definite news from Lemberg. It is pouring with rain! *It is foolish to demand more justification from an enemy bullet than from one's own government. If the latter was unable to prevent the war, and harmed its subjects by taking wrong actions in peacetime, then even the enemy will add to the irrationally, and his bullet will make no further differences. *Around midday, extra editions report a great success around Lemberg, 1 and also a victory for Hindenburg. 2 The Lemberg success is expressed by a substantial number of prisoners taken; however, the troops had to pull back still further. Perhaps they will first stop "for a period" at Przemysl, and at that point the German army might be able to provide stronger support. Hindenburg's crossing of the border at first has perhaps more moral than strategic value; he is preceded by the very best reputation, which will crush the enemy at the outset. *In the coffee house we meet a pilot who has been ordered to Herzegovina. His mood was confident; and in contradiction to the declarations from the general staff, he maintained that the Russians had not entered Lemberg. 3 — Suddenly Floriz catches up with us at the Café Siller. There I again get carried away in saying something about the discipline of culture and the evaluation of the races; I was not attentive to the recipients {703} and nearly lost my breath in my hurriedness. But everything was in vain! People will gladly content themselves in the first state of their self-consciousness, insofar as they are taken in only by themselves. Since nothing further belongs to this than mere stupidity and ignorance, then any mediocre person can afford this vanity first and foremost. But in order to take the first step forwards, i.e. to know who he is and in any event to know who he is not, he actually needs to know more. This effort, however, he avoids, probably because he is incapable of doing so; and he contemplates himself, and the rest of the word, merely through the spectacles of vanity, which from his own point of view is a magnifying glass, but with respect to the rest of the world is a diminishing glass. — At the same coffee house, I also meet Fritz Kreisler – with his wife and sister – who, as wounded [soldier], is currently in domiciliary care. The war has not changed him in the least: affected blinking, and carrying the intellectual train of his wife; in short, all his characteristics remain unchanged. Just to be difficult, and pretending to do so unintentionally – and with his wife's English-American background firmly in mind – I dared to say that the English have everything on their conscience. Whereupon Mrs. Kreisler sprang into action immediately, arguing that one ought not say such a thing, that they have all suffered from megalomania, everyone, including the Germans, etc., and that it would have long been obvious. As always, concerned only about the business interests of her husband, the artist's wife had wanted even now to build a bridge to her husband's future London concerts! I left the unpleasant couple immediately. *
© Translation William Drabkin. |
Footnotes1 "Die Schlachten im Raume um Lemberg. 10.000 Russen gefangengenommen," Neues Wiener Tagblatt, No. 253, September 13, 1914, 48th year, extra edition, p. 1. 2 "Die deutschen Siege in Ostpreußen. General von Hindenburg hat die russische Grenze überschritten," Neues Wiener Tagblatt, No. 253, September 13, 1914, 48th year, extra edition, p. 2. 3 This entry refers to the Battle of Galicia (August 23 to September 11, 1914), a larger series of battles between Russia and Austria-Hungary during the early stages of World War I. The Austro-Hungarian armies were initially successful (Battles of Kraśnik and Komarów), but finally defeated (Battles of Gnila Lipa and Rawa) and forced out of Galicia, while the Russians captured Lemberg and, for approximately nine months, ruled Eastern Galicia. |