5. Okt. 13.

Brief an Kopfermann wegen Skizzen zu op. 110 u. 111.

*

Bestellung der Orig.-Ausg. von op. 106 bei Liepmanson.

*

Etwas zur Geschlechtsmoral. Im Grunde ist auch dem Männchen eigentümlich, was jedem Tiere eigentümlich ist: die Sucht ein Weibchen allein zu besitzen u. zugleich ausschließlich nur ihr allein zu gehören. Und ebenso ist dem Weibchen von Natur aus vorgezeichnet dem Einen gehören zu wollen u. den Einen besitzen zu wollen. Indessen wird dieser Naturtrieb bei Männchen u. Weibchen aus zahllosen mannigfaltigen Gründen verfälscht, geknickt, u. s. f. So muß das Männchen schon als Jüngling der Kompliziertheit wirtschaftlicher Verhältnisse jenen Trieb zum Opfer bringen u. seine Befriedigung bei Prostituierten oder sich-Prostituirenden suchen, da seine körperliche Entwicklung schon fertig dasteht, noch ehe die übrige Entwicklung die Schließung eines Liebes- bezw. Ehebundes aus wirtschaftlichen u. sonstigen Gründen gestattet. Diese organische Notwendigkeit g der gegenwärtigen sozialen Struktur hat zur weiteren Folge, daß der Urtrieb in der gesamten Mannheit verfälscht wird u. nun einmal auf der Bahn der Fälschung allerhand geschlechtlichen Renommistereien u. Angewöhnungen Platz macht, die der Suggestion u. Mode unterliegen. Das Männchen ist eben schon aus dem Geleise u. da wirken auf ihn statt der Wahrheit die verderblichsten Irrtümer ein, denen er sich umso weniger entziehen kann, als sie bereits eine Art Massen-Suggestion u. Hypnose vorstellen. Auch beim Weibchen ist die körperliche Entwicklung gegeben, noch ehe leidige soziale Verhältnisse ihr eine Beziehung gestatten, in der sich der Urtrieb rein u. unverfälscht ausleben ließe.

Zu der Verschiebung der Basis, auf der der Urtrieb gedeihen sollte, gesellt sich eine schwerwiegende psychologische Tatsache: Je weniger sich die Menschen für die unsägliche [illeg]Kompliziertheit der sozialen Verhältnisse individuell verantwortlich fühlen, desto lebhafter empfinden sie das Bedürfnis, das, was sie tun u. treiben, in einem immerhin schöneren Lichte zu sehen, als es in Wahrheit gesehen zu werden ver- {436} dient. Muß es schon so sein, wie es ist, so deuten sie sich es lieber schön als häßlich aus, um das Leben u. die eigenen Taten erträglicher zu machen. Auf das Geschlechtsleben angewendet äußert sich dieser echt menschliche Zug darin, daß Männchen u. Weibchen sich die Aeußerungen des Urtriebs selbst auch noch dort als sogenannte Liebe auslegen, wo er sicher ganz aus dem Geleise ist. Leider pflegen auch die Dichter diesen Irrwahn u. fördern ihn damit, daß auch sie von Liebe sprechen, wo blos der Geschlechtstrieb nackt [sic] u. ohne dauernde Befriedigung absolviert wird. So fördert also die romantische Ausschmückung des Irrtums den Irrtum selbst, so daß die Wahrheit immer weiter von den Menschen rückt.

Es geschieht also obigen besagten Irrtümern u. Mißverständnissen zufolge, daß das Weibchen annimmt, der Mann finde wirkliche Befriedigung auch bei einer Prostituirten, was wie ich sagte in Wahrheit nicht der Fall ist. Und umgekehrt glaubt der Mann, Untreue sei dem Weibchen ein natürliches Gebot, was wieder nicht der Fall ist. Sofern aber das Weibchen den wahren Sachverhalt nicht beurteilen kann, glaubt sie am besten zu handeln, wenn sie mit Prostituirten in Kleidung u. Haltung um die Gunst des Männchens rivalisirt, statt dessen sicher zu sein, daß gerade der volle Gegensatz zur Prostituirten die Anziehungskraft des Weibchens für den Mann garantirt. Es folgt aus all dem, daß, so lange die Verworrenheit der sozialen Verhältnisse anhält, die Prostitution nicht abzuschaffen sein wird. So lange aber diese besteht, wird notwendigerweise der Mann seine Zuflucht nehmen müssen u., einmal im Banne dieser Lüge, all sein künftiges Geschlechtsleben zu verunreinigen Gefahr laufen. Endlich folgt noch, daß die Verunreinigung des ursprünglich wahren u. schönen Triebes nachteilige Konsequenzen auch für die Frau hat, die einfach deren Opfer wird, sich falsche Gedanken über das Geschlechtsleben des Mannes macht u. darnach ihr Leben einrichtet.

*

{437}

© Transcription Marko Deisinger.

October 5, 1913.

Letter to Kopfermann concerning sketches for Op. 110 and Op. 111.

*

Ordering of the first edition of Op. 106 from Liepmanson.

*

Something about sexual morals. Basically, what pertains to any animal pertains also to a human male: the desire to possess a female on his own and, at the same time, to belong exclusively to her. And likewise the female is inherently predestined to want to belong to the one male, and to want to possess that one. Nonetheless, this natural instinct among males and females is falsified, broken, and so on, for an infinite variety of reasons. Thus the male, even as a novice in the complexity of business relationships, must sacrifice that drive and seek his satisfaction with the prostitutes, or those who behave like prostitutes, since his physical development has already been completed before his remaining development can enable him to conclude a bond of love or marriage on financial or other grounds. This organic necessity of the present social structure has the further consequence that the primal drives in his total manliness are falsified; and just as he is on the path of falsification, there comes a place for all sorts of sexual boasts and mannerisms which succumb to suggestion and fashion. The male has already become derailed; and instead of the truth, the most pernicious errors work their effect, from which he is all the less able to extricate himself since they represent a kind of mass suggestion and hypnosis. With the female, too, the physical development is complete even before the troublesome social relationships permit her a relationship in which her primal instincts can be purely and genuinely consummated.

For the postponement of the basis on which primal desire should flourish, a grave psychological fact comes into play: the less people feel individually responsible for the unspeakable complexity of social relationships, the readier they feel the need to see what they do and pursue in a more favorable light than that in which it actually deserves to be seen. {436} If things must actually be as they are, then people would rather interpret them as beautiful than as ugly, in order to make their life and their own deeds more tolerable. Applied to their sexual life, this genuinely human characteristic expresses itself in such a way that males and females construe the expressions of primal desire themselves as so-called love, even when that desire has most surely gone off the rails. Unfortunately, poets also perpetrate this error, and promote it by speaking about love when merely the sexual urge is relieved, and without lasting satisfaction. Thus the Romantic embellishment of the error promotes the error itself, so that the truth moves even further away from people.

As a result of the above said errors and misunderstandings, it happens that the female assumes that the male finds true satisfaction even with a prostitute, something which I said was not the case. And, conversely, the male believes that infidelity is a natural commandment in females, which is again not the case. But insofar as the female cannot judge the true facts of the matter, she believes that it is best to behave by competing with prostitutes in clothing and conduct for the male's favor, instead of feeling certain that it is precisely the complete opposite to the prostitute that will guarantee the female's power to attract the male. From all this it follows that, so long as the perplexities of social relationships prevail, prostitution will not be eradicated. But so long as the latter exists, the man will necessarily have to take his refuge; and once he is trapped by this lie, all his future sexual lives risk becoming contaminated. In the end it follows that the contamination of what was originally a true and beautiful act has adverse consequences also for the woman, who simply becomes its victim, harbors false ideas about the sexual life of her husband, and arranges her life accordingly.

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{437}

© Translation William Drabkin.

5. Okt. 13.

Brief an Kopfermann wegen Skizzen zu op. 110 u. 111.

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Bestellung der Orig.-Ausg. von op. 106 bei Liepmanson.

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Etwas zur Geschlechtsmoral. Im Grunde ist auch dem Männchen eigentümlich, was jedem Tiere eigentümlich ist: die Sucht ein Weibchen allein zu besitzen u. zugleich ausschließlich nur ihr allein zu gehören. Und ebenso ist dem Weibchen von Natur aus vorgezeichnet dem Einen gehören zu wollen u. den Einen besitzen zu wollen. Indessen wird dieser Naturtrieb bei Männchen u. Weibchen aus zahllosen mannigfaltigen Gründen verfälscht, geknickt, u. s. f. So muß das Männchen schon als Jüngling der Kompliziertheit wirtschaftlicher Verhältnisse jenen Trieb zum Opfer bringen u. seine Befriedigung bei Prostituierten oder sich-Prostituirenden suchen, da seine körperliche Entwicklung schon fertig dasteht, noch ehe die übrige Entwicklung die Schließung eines Liebes- bezw. Ehebundes aus wirtschaftlichen u. sonstigen Gründen gestattet. Diese organische Notwendigkeit g der gegenwärtigen sozialen Struktur hat zur weiteren Folge, daß der Urtrieb in der gesamten Mannheit verfälscht wird u. nun einmal auf der Bahn der Fälschung allerhand geschlechtlichen Renommistereien u. Angewöhnungen Platz macht, die der Suggestion u. Mode unterliegen. Das Männchen ist eben schon aus dem Geleise u. da wirken auf ihn statt der Wahrheit die verderblichsten Irrtümer ein, denen er sich umso weniger entziehen kann, als sie bereits eine Art Massen-Suggestion u. Hypnose vorstellen. Auch beim Weibchen ist die körperliche Entwicklung gegeben, noch ehe leidige soziale Verhältnisse ihr eine Beziehung gestatten, in der sich der Urtrieb rein u. unverfälscht ausleben ließe.

Zu der Verschiebung der Basis, auf der der Urtrieb gedeihen sollte, gesellt sich eine schwerwiegende psychologische Tatsache: Je weniger sich die Menschen für die unsägliche [illeg]Kompliziertheit der sozialen Verhältnisse individuell verantwortlich fühlen, desto lebhafter empfinden sie das Bedürfnis, das, was sie tun u. treiben, in einem immerhin schöneren Lichte zu sehen, als es in Wahrheit gesehen zu werden ver- {436} dient. Muß es schon so sein, wie es ist, so deuten sie sich es lieber schön als häßlich aus, um das Leben u. die eigenen Taten erträglicher zu machen. Auf das Geschlechtsleben angewendet äußert sich dieser echt menschliche Zug darin, daß Männchen u. Weibchen sich die Aeußerungen des Urtriebs selbst auch noch dort als sogenannte Liebe auslegen, wo er sicher ganz aus dem Geleise ist. Leider pflegen auch die Dichter diesen Irrwahn u. fördern ihn damit, daß auch sie von Liebe sprechen, wo blos der Geschlechtstrieb nackt [sic] u. ohne dauernde Befriedigung absolviert wird. So fördert also die romantische Ausschmückung des Irrtums den Irrtum selbst, so daß die Wahrheit immer weiter von den Menschen rückt.

Es geschieht also obigen besagten Irrtümern u. Mißverständnissen zufolge, daß das Weibchen annimmt, der Mann finde wirkliche Befriedigung auch bei einer Prostituirten, was wie ich sagte in Wahrheit nicht der Fall ist. Und umgekehrt glaubt der Mann, Untreue sei dem Weibchen ein natürliches Gebot, was wieder nicht der Fall ist. Sofern aber das Weibchen den wahren Sachverhalt nicht beurteilen kann, glaubt sie am besten zu handeln, wenn sie mit Prostituirten in Kleidung u. Haltung um die Gunst des Männchens rivalisirt, statt dessen sicher zu sein, daß gerade der volle Gegensatz zur Prostituirten die Anziehungskraft des Weibchens für den Mann garantirt. Es folgt aus all dem, daß, so lange die Verworrenheit der sozialen Verhältnisse anhält, die Prostitution nicht abzuschaffen sein wird. So lange aber diese besteht, wird notwendigerweise der Mann seine Zuflucht nehmen müssen u., einmal im Banne dieser Lüge, all sein künftiges Geschlechtsleben zu verunreinigen Gefahr laufen. Endlich folgt noch, daß die Verunreinigung des ursprünglich wahren u. schönen Triebes nachteilige Konsequenzen auch für die Frau hat, die einfach deren Opfer wird, sich falsche Gedanken über das Geschlechtsleben des Mannes macht u. darnach ihr Leben einrichtet.

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{437}

© Transcription Marko Deisinger.

October 5, 1913.

Letter to Kopfermann concerning sketches for Op. 110 and Op. 111.

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Ordering of the first edition of Op. 106 from Liepmanson.

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Something about sexual morals. Basically, what pertains to any animal pertains also to a human male: the desire to possess a female on his own and, at the same time, to belong exclusively to her. And likewise the female is inherently predestined to want to belong to the one male, and to want to possess that one. Nonetheless, this natural instinct among males and females is falsified, broken, and so on, for an infinite variety of reasons. Thus the male, even as a novice in the complexity of business relationships, must sacrifice that drive and seek his satisfaction with the prostitutes, or those who behave like prostitutes, since his physical development has already been completed before his remaining development can enable him to conclude a bond of love or marriage on financial or other grounds. This organic necessity of the present social structure has the further consequence that the primal drives in his total manliness are falsified; and just as he is on the path of falsification, there comes a place for all sorts of sexual boasts and mannerisms which succumb to suggestion and fashion. The male has already become derailed; and instead of the truth, the most pernicious errors work their effect, from which he is all the less able to extricate himself since they represent a kind of mass suggestion and hypnosis. With the female, too, the physical development is complete even before the troublesome social relationships permit her a relationship in which her primal instincts can be purely and genuinely consummated.

For the postponement of the basis on which primal desire should flourish, a grave psychological fact comes into play: the less people feel individually responsible for the unspeakable complexity of social relationships, the readier they feel the need to see what they do and pursue in a more favorable light than that in which it actually deserves to be seen. {436} If things must actually be as they are, then people would rather interpret them as beautiful than as ugly, in order to make their life and their own deeds more tolerable. Applied to their sexual life, this genuinely human characteristic expresses itself in such a way that males and females construe the expressions of primal desire themselves as so-called love, even when that desire has most surely gone off the rails. Unfortunately, poets also perpetrate this error, and promote it by speaking about love when merely the sexual urge is relieved, and without lasting satisfaction. Thus the Romantic embellishment of the error promotes the error itself, so that the truth moves even further away from people.

As a result of the above said errors and misunderstandings, it happens that the female assumes that the male finds true satisfaction even with a prostitute, something which I said was not the case. And, conversely, the male believes that infidelity is a natural commandment in females, which is again not the case. But insofar as the female cannot judge the true facts of the matter, she believes that it is best to behave by competing with prostitutes in clothing and conduct for the male's favor, instead of feeling certain that it is precisely the complete opposite to the prostitute that will guarantee the female's power to attract the male. From all this it follows that, so long as the perplexities of social relationships prevail, prostitution will not be eradicated. But so long as the latter exists, the man will necessarily have to take his refuge; and once he is trapped by this lie, all his future sexual lives risk becoming contaminated. In the end it follows that the contamination of what was originally a true and beautiful act has adverse consequences also for the woman, who simply becomes its victim, harbors false ideas about the sexual life of her husband, and arranges her life accordingly.

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{437}

© Translation William Drabkin.