7.
Abends bei Floriz, Mittelmann zugegen; aus der „Fackel“ vorgelesen. Fl. macht den Antrag Sonntags mitgehen zu dürfen. Selbstverständlich unterminirt von egoistischen, wenn auch nicht an sich zu tadelnden Motiven. *Seit mehreren Tagen die Briefe v. Beethoven gelesen; 1 unter mehrfachen Gesichtspunkten excerpirt, sowohl für die Vorrede als auch für andere Zwecke. Man muß die Briefe nur zu lesen verstehen! Vor allem darf man nicht vergessen, daß Beeth. in den Briefen sozusagen nicht über das Stadium der Skizze hinausgelangt u. wenn er in der Musik oft sehr langer Zeit bedurfte um damit ins Reine zu kommen, was er sagen wollte, so darf man nicht übersehen, daß er in den Briefen sich auf dem Gebiete der Sprache bewegt, die ihm weniger als Musik vertraut war u. daher das alles von selbst zu ergänzen hat, was er ohne Zweifel ergänzt hätte, wenn er sich mit den dort ausgedrückten Ge- {321} danken länger befaßt hätte. Der Wissende wird daher in den Briefen die tiefsinnigsten Aufschlüsse finden, wie sie ihm nur ein Genie wie Beethoven geben kann. *Auch der Geschlechtstrieb ruht mehr auf der Basis der Eitelkeit, als der eines organischen Imperativs. Daher führt die Wissenschaft irre, wenn sie vom Motor der Eitelkeit absieht oder ihn zu gering einstellt. Weder Mann noch Frau empfinden den Drang so stark, daß sie ihn unter allen Umständen effektuiren müßten. Wenn das Blut noch so hoch empor wirbelt, ist ein völliger Rückzug der Sinne noch möglich. Man braucht ja nur irgend ein Hindernis akuter Art, z. B. Ueberraschung, Brand oder dgl. in Scene zu setzen, um sich davon zu überzeugen, daß wohl niemals eine Erregung unmittelbar u. dringend in den Geschlechtsakt hinüberführen muß. Von Natur aus ist also, wie daraus hervorgeht, der Geschlechtstrieb weit weniger rigoros als der Hunger oder der Schlaf; eine Auflehnung gegen diese Forderungen der Natur kann niemals so lange betrieben werden, als eine solche gegen den Geschlechtstrieb. Aber freilich, der holde Müßiggang u. das noch holdere Vergnügen, die zur Befriedigung des Geschlechtstriebs gehören, locken die Menschen als an sich leichte u. müßiggängerische Leistungen unwiderstehlich u. da sie sich dieser leichten Handlungen gerne u. oft schuldig machen wollen, dadurch aber oft in Konflikte geraten, so paßt es ihnen sozusagen kraft einer geheimen Konvention untereinander zu verabreden, daß „Temperament“ als Entschuldigungsgrund zu gelten habe. Man spielt Temperament, also eine angebliche Nötigung aus, blos weil man sich das billige Amüsement nicht versagen will, besonders aber, wie gesagt, wenn man vor Gericht oder sonst Rechenschaft zu legen hat. Die Anrufung des Temperaments ist also eine pure Lüge u. ursprünglich als Gerichtskniff entstanden, später in das allgemeine Denken übergegangen. *{322} © Transcription Marko Deisinger. |
7.
In the evening at Floriz's, Mittelmann present; reading from Die Fackel . Floriz asks if he might come along on Sunday. Obviously undermined by egoistic motives, if not also ones that are in themselves reprehensible. *For several days, reading of Beethoven's letters; 1 excerpted from several points of view, as much for the Preface as for other purposes. One must only understand how to read the letters! Above all one must not forget that in his letters Beethoven did not, so to speak, get beyond the level of a draft; and if he often needed a great deal of time to say what he wanted to say about music with clarity, one should not overlook that he was working in the field of spoken language, with which he was less at home than with that of music, and therefore had to work out everything by himself, which he would without doubt have done if he had spent a longer time with the thoughts expressed there. {321} Those in the know will, therefore, find the profound information in the letters, the likes of which only a genius like Beethoven can give them. *Even the sexual drive is based more on vanity than on an organic imperative. For this reason, science goes astray if it ignores the motor of vanity or takes too little account of it. Neither man nor woman finds that the urge is so strong that they must accomplish it at all costs. Even if the blood swirls up so high, a complete retreat of the senses is still possible. Indeed, one need only stage a hindrance of an acute sort, e.g. a surprise, a fire, or something like that in order to convince oneself that it is probably never the case that an arousal must lead directly to the sexual act. It then follows from nature that the sexual drive is far less rigorous than hunger or sleep; a rebellion against these demands of nature can never be undertaken at such length as one against the sexual act. Of course, however, sweet idleness and the even sweeter state of pleasure, which belong to the gratification of the sexual urge, tempt people irresistibly as easy and idle accomplishments in their own right; and since they gladly and often guiltily get on with these easy activities, however often they may be in conflict, it suits them – thanks to a secret convention between themselves, so to speak – that "temperament" can serve as grounds of excuse. One plays out "temperament," then, as a supposed necessity, simply because one does not want to deny oneself the cheap amusement – especially, however, as said, if one has to appear before a court or some other sort of reckoning. The appeal to temperament is thus a pure lie, and arose originally as a legal stratagem and later passed into general reasoning. *{322} © Translation William Drabkin. |
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Abends bei Floriz, Mittelmann zugegen; aus der „Fackel“ vorgelesen. Fl. macht den Antrag Sonntags mitgehen zu dürfen. Selbstverständlich unterminirt von egoistischen, wenn auch nicht an sich zu tadelnden Motiven. *Seit mehreren Tagen die Briefe v. Beethoven gelesen; 1 unter mehrfachen Gesichtspunkten excerpirt, sowohl für die Vorrede als auch für andere Zwecke. Man muß die Briefe nur zu lesen verstehen! Vor allem darf man nicht vergessen, daß Beeth. in den Briefen sozusagen nicht über das Stadium der Skizze hinausgelangt u. wenn er in der Musik oft sehr langer Zeit bedurfte um damit ins Reine zu kommen, was er sagen wollte, so darf man nicht übersehen, daß er in den Briefen sich auf dem Gebiete der Sprache bewegt, die ihm weniger als Musik vertraut war u. daher das alles von selbst zu ergänzen hat, was er ohne Zweifel ergänzt hätte, wenn er sich mit den dort ausgedrückten Ge- {321} danken länger befaßt hätte. Der Wissende wird daher in den Briefen die tiefsinnigsten Aufschlüsse finden, wie sie ihm nur ein Genie wie Beethoven geben kann. *Auch der Geschlechtstrieb ruht mehr auf der Basis der Eitelkeit, als der eines organischen Imperativs. Daher führt die Wissenschaft irre, wenn sie vom Motor der Eitelkeit absieht oder ihn zu gering einstellt. Weder Mann noch Frau empfinden den Drang so stark, daß sie ihn unter allen Umständen effektuiren müßten. Wenn das Blut noch so hoch empor wirbelt, ist ein völliger Rückzug der Sinne noch möglich. Man braucht ja nur irgend ein Hindernis akuter Art, z. B. Ueberraschung, Brand oder dgl. in Scene zu setzen, um sich davon zu überzeugen, daß wohl niemals eine Erregung unmittelbar u. dringend in den Geschlechtsakt hinüberführen muß. Von Natur aus ist also, wie daraus hervorgeht, der Geschlechtstrieb weit weniger rigoros als der Hunger oder der Schlaf; eine Auflehnung gegen diese Forderungen der Natur kann niemals so lange betrieben werden, als eine solche gegen den Geschlechtstrieb. Aber freilich, der holde Müßiggang u. das noch holdere Vergnügen, die zur Befriedigung des Geschlechtstriebs gehören, locken die Menschen als an sich leichte u. müßiggängerische Leistungen unwiderstehlich u. da sie sich dieser leichten Handlungen gerne u. oft schuldig machen wollen, dadurch aber oft in Konflikte geraten, so paßt es ihnen sozusagen kraft einer geheimen Konvention untereinander zu verabreden, daß „Temperament“ als Entschuldigungsgrund zu gelten habe. Man spielt Temperament, also eine angebliche Nötigung aus, blos weil man sich das billige Amüsement nicht versagen will, besonders aber, wie gesagt, wenn man vor Gericht oder sonst Rechenschaft zu legen hat. Die Anrufung des Temperaments ist also eine pure Lüge u. ursprünglich als Gerichtskniff entstanden, später in das allgemeine Denken übergegangen. *{322} © Transcription Marko Deisinger. |
7.
In the evening at Floriz's, Mittelmann present; reading from Die Fackel . Floriz asks if he might come along on Sunday. Obviously undermined by egoistic motives, if not also ones that are in themselves reprehensible. *For several days, reading of Beethoven's letters; 1 excerpted from several points of view, as much for the Preface as for other purposes. One must only understand how to read the letters! Above all one must not forget that in his letters Beethoven did not, so to speak, get beyond the level of a draft; and if he often needed a great deal of time to say what he wanted to say about music with clarity, one should not overlook that he was working in the field of spoken language, with which he was less at home than with that of music, and therefore had to work out everything by himself, which he would without doubt have done if he had spent a longer time with the thoughts expressed there. {321} Those in the know will, therefore, find the profound information in the letters, the likes of which only a genius like Beethoven can give them. *Even the sexual drive is based more on vanity than on an organic imperative. For this reason, science goes astray if it ignores the motor of vanity or takes too little account of it. Neither man nor woman finds that the urge is so strong that they must accomplish it at all costs. Even if the blood swirls up so high, a complete retreat of the senses is still possible. Indeed, one need only stage a hindrance of an acute sort, e.g. a surprise, a fire, or something like that in order to convince oneself that it is probably never the case that an arousal must lead directly to the sexual act. It then follows from nature that the sexual drive is far less rigorous than hunger or sleep; a rebellion against these demands of nature can never be undertaken at such length as one against the sexual act. Of course, however, sweet idleness and the even sweeter state of pleasure, which belong to the gratification of the sexual urge, tempt people irresistibly as easy and idle accomplishments in their own right; and since they gladly and often guiltily get on with these easy activities, however often they may be in conflict, it suits them – thanks to a secret convention between themselves, so to speak – that "temperament" can serve as grounds of excuse. One plays out "temperament," then, as a supposed necessity, simply because one does not want to deny oneself the cheap amusement – especially, however, as said, if one has to appear before a court or some other sort of reckoning. The appeal to temperament is thus a pure lie, and arose originally as a legal stratagem and later passed into general reasoning. *{322} © Translation William Drabkin. |
Footnotes1 Schenker was probably consulting Alfred Kalischer's five-volume Beethovens sämtliche Briefe (Berlin & Leipzig: Schuster & Löffler, 1906–8), in Theodor Frimmel's revised edition of 1909–11, which is cited directly in Der Tonwille 6 (1923), pp. 39–41, 42–3 (Eng. trans., vol. 2, pp. 69–71, 72–4). |