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30. X.

In diesen Zeiten schwerer Not ertönt immer lauter der Ruf nach {261} nach „ganzen Menschen“, besonders nach einem „großen Manne“.
In der Tat ist die Welt ohne Centrum eines Genies bloß ein Chaos. Die Verzweiflung u. Armut an treibenden Kräften drängt zum gegenseitigen Abschlachten. Ich vermute, daß auch die uns historisch überlieferten Völkerwanderungen nicht als erstaunliche positive Leistungen von Königen oder Heerführern, denen ein Genie zuzuschreiben wäre, zurückzuführen aufzufassen sind, sondern nur als Produkte allgemeiner Haltlosigkeit umzudenken notwendig wären. Wenn man vom Ruhm absieht, der zwischen Genie u. Nicht-Genie die Unterschiede mindestens nicht im[m]er beobachtet, sind die berühmten Heerführer in den Zeiten der Völkerwanderungen nicht treibende, sondern blos dunkel getriebene Mächte selbst gewesen.
Musikalisch gesprochen läßt die heutige Welt eine bestimmte Tonalität vermissen, weil ihr die Tonika eines Genies fehlt.

*

Nichts ist dem Kinde fremder, als die Liebe zu anderen Wesen; instinktiv sucht es blos jener Mittel habhaft zu werden, die zum Aufbau seines Organismus dienen, mit einer dem Tiere, als welches der Mensch zu betrachten ist, nicht unrechtschaffen zustehenden Ausschaltung der geistigen Mittel, deren praktischen Nutzen der Mensch überhaupt so schwer einsieht. Altruismus als Liebe zu den anderen Menschen ist im Grunde nicht angeboren u. muß daher erst gelernt werden . ! Einen ersten ja bescheidenen Einblick in den Altruismus gewinnt der Mensch erst innerhalb seiner erotischen Betätigung, d. h. zum zweiten Menschen führt ihn im Grunde nur die erotische Brücke allein. Doch auch dieser bescheidene Altruismus verblaßt, sobald wenn [sic] die Individuen nicht stark genug sind u.; der Altruismus zur ganzen Menschheit findet sich aber nur beim Genie allein ein. Nur das Genie vermag den praktischen Wert des Altruismus zu verstehen! Leider predigt es diesen vergeblich den Menschen, die vor lauter Sucht nach Nutzen aus Un- {262} verstand Zerstörung treiben.
Nicht immer ist daher der Egoismus schon als ein Laster zu schelten nennen, da mit diesem Namen leider auch jene Fälle gedeckt werden, wo in denen man nur das Recht hat zu sagen, daß der Altruismus noch nicht erlernt wurde; u. denn nur darauf allein kommt es an: Auch Liebe u. Altruismus wollen gelernt werden. Da sie die Hilfeleistung an das geliebte Wesen zum Inhalt haben, so versteht es sich, daß Hilfe nicht geleistet werden kann, wenn man nicht weiß, worin sie zu bestehen hat. Jeder Fall ist eben ein besonderer u. so hat jedes liebende Individuum eine besondere Aufgabe, die in besonderer Weise zu lösen ist. Daher ist es nötig, den Geist in Lösungsmöglichkeiten zu üben u. zu schulen, um die Aufgabe zu lösen.

*

Die Welt ist heute von Sehnsucht nach neuen Idealen erfüllt, nachdem sie der Tautologie müde geworden, die sie durch etwa 2–3 Jahrzehnte hindurch pflegte. Sie ist müde geworden, sich von den Dichtern u. Gelehrten das auf der Bühne, im Werk, vormachen zu lassen, was sie selbst sehen konnte; sie will mehr, weiß aber nicht was! Dem Uebel ist nicht zu helfen: Hat doch die Welt die Ideale verabschiedet, nicht, weil sie sie, wie sie glaubt, erschöpft hätte, sondern bevor sie auch nur den ersten Schritt in die Geheimnisse gemacht hat. Und wenn nun die Tautologie sie nicht mehr befriedigt, so kann sie, in Ermanglung einer ordentlichen Beziehung zu den Idealen, unmöglich eine Forderung präcisiren. Was sollte sie denn auch verlangen können, das sie doch nicht einmal weiß, daß was sie verlangt, ihr schon längst erfüllt worden. Es würde sich daher empfehlen , zuerst zu begreifen, wie sehr die Sehnsucht der Menschheit von Genies im Grunde ja schon längst zur Erfüllung gebracht worden ist . , Uund diese Erfüllung bis ans Ende aller Zeiten zu {263} genießen, statt unberechtigter- u. undankbarerweise neue Forderungen aufzustellen.
So im Größten, wie im Kleinsten.
Auch Frauen lieben es, bevor sie noch die Erfüllung ihrer eigenen Forderungen sehen gelernt haben, geschwiege genossen, Forderungen aufzustellen, als wären sie diese nicht schon erfüllt geworden!
Und auch in der Kunst begegnen wir derselben Erscheinung; wornach sich z. B. die musikalische Welt heute sehnt, ist längst durch unsere Genies zur Erfüllung gebracht worden, aber sie sehen nicht was sie sehen u. sie hören nicht was sie hören u. verlangen eben daher nach Neuem. (s. Vorrede zur „Braut v. Messina [“].) 1

*

© Transcription Marko Deisinger.

October 30.

In these times of great hardship, the cry is sounded ever louder {261} for "whole people," especially for a "great man."
In fact, the world without the center of a genius is merely a [state of] chaos. The despair and poverty in driving forces, pushes towards reciprocal massacres. I suspect that the mass migrations that have been transmitted to us by historians should not be understood as extraordinary positive accomplishments of kings or rulers to whom [the quality of] a genius should be ascribed, but should necessarily be reinterpreted merely as the products of general instability. If one disregards fame, which at least does not recognize the difference between genius and non-genius, the famous rules in the times of mass migration were not driving forces, but were merely enigmatically driven themselves.
Expressed in musical terms, today's world is lacking a clear tonality, because it lacks the tonic of a genius.

*

Nothing is more alien to a child than love for other beings. Instinctively it seeks merely to acquire the means that will serve to build up his organism, and does so by the suppression of intellectual resources – a characteristic that may not disreputably be ascribed to the animal kingdom to which mankind belongs, a mankind that [itself] finds it so difficult to understand the practical use of such resources. Altruism as love of other people is basically not innate, it must therefore first be learned! One gains an initial, indeed modest glimpse of altruism within one's erotic activity; that is, one is in essence led to a second person only via the erotic bridge. Yet even this modest form of altruism pales at the moment that the individuals are not sufficiently strong; the altruism to the whole of humanity is, however, present only in the genius. Only the genius is capable of understanding the practical value of altruism! Unfortunately, it preaches this in vain to people who, in their unbridled pursuit of profit {262} and their ignorance, perpetrate destruction.
For this reason, egoism should not always be rebuked as a vice, since unfortunately this term also covers those cases in which one merely has the right to say that altruism had not yet been learned. For all that matters is this: even love and altruism need to be learned. Since their purpose is to provide support for the loved one, it is clear that help cannot be provided if one does not know what it consists of. Each case is actually a special one, and so every loving individual has a special problem, which is to be solved in a special way. For this reason, it is necessary to exercise and instruct the intellect in the possible ways of [finding] solutions in order to solve problems.

*

Today the world is filled with yearning after new ideals, after it grew tired of the tautology which it cultivated over a period of about two to three decades. It is tired of letting its poets and intellectuals show on stage, in their work, what it can see for itself. It wants more, but does not know what! This malady cannot be cured: for the world dismissed the ideals not, as it believes, because it had exhausted them, but rather before it has even taken the first step to discovering their secrets. And if now the tautology no longer satisfies it, then, in the absence of a proper relationship to the ideals, it is no longer possible to express its requirements precisely. What, then, should it even be able to demand, as it does not yet know that what it demands has already been granted to it? It would thus be recommended to begin by understanding how much humanity's yearning has already been brought to fulfillment by geniuses long ago, and also to enjoy this fulfillment until the end of time, {262} instead of unjustifiably and ungratefully making new demands.
Thus at the highest level, as well as the lowest.
Women, too, like to make demands before they have even learned to see the fulfillment of their own demands, to say nothing of enjoying this, as if theirs had not already been fulfilled!
And in art, too, we encounter the same phenomenon: that which, for instance, the musical world longs for today has long ago been brought to fulfillment by our geniuses. But it does not see what it looks at and cannot hear what it hears, and for this very reason it demands something new (see the prologue to The Bride of Messina). 1

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© Translation William Drabkin.

30. X.

In diesen Zeiten schwerer Not ertönt immer lauter der Ruf nach {261} nach „ganzen Menschen“, besonders nach einem „großen Manne“.
In der Tat ist die Welt ohne Centrum eines Genies bloß ein Chaos. Die Verzweiflung u. Armut an treibenden Kräften drängt zum gegenseitigen Abschlachten. Ich vermute, daß auch die uns historisch überlieferten Völkerwanderungen nicht als erstaunliche positive Leistungen von Königen oder Heerführern, denen ein Genie zuzuschreiben wäre, zurückzuführen aufzufassen sind, sondern nur als Produkte allgemeiner Haltlosigkeit umzudenken notwendig wären. Wenn man vom Ruhm absieht, der zwischen Genie u. Nicht-Genie die Unterschiede mindestens nicht im[m]er beobachtet, sind die berühmten Heerführer in den Zeiten der Völkerwanderungen nicht treibende, sondern blos dunkel getriebene Mächte selbst gewesen.
Musikalisch gesprochen läßt die heutige Welt eine bestimmte Tonalität vermissen, weil ihr die Tonika eines Genies fehlt.

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Nichts ist dem Kinde fremder, als die Liebe zu anderen Wesen; instinktiv sucht es blos jener Mittel habhaft zu werden, die zum Aufbau seines Organismus dienen, mit einer dem Tiere, als welches der Mensch zu betrachten ist, nicht unrechtschaffen zustehenden Ausschaltung der geistigen Mittel, deren praktischen Nutzen der Mensch überhaupt so schwer einsieht. Altruismus als Liebe zu den anderen Menschen ist im Grunde nicht angeboren u. muß daher erst gelernt werden . ! Einen ersten ja bescheidenen Einblick in den Altruismus gewinnt der Mensch erst innerhalb seiner erotischen Betätigung, d. h. zum zweiten Menschen führt ihn im Grunde nur die erotische Brücke allein. Doch auch dieser bescheidene Altruismus verblaßt, sobald wenn [sic] die Individuen nicht stark genug sind u.; der Altruismus zur ganzen Menschheit findet sich aber nur beim Genie allein ein. Nur das Genie vermag den praktischen Wert des Altruismus zu verstehen! Leider predigt es diesen vergeblich den Menschen, die vor lauter Sucht nach Nutzen aus Un- {262} verstand Zerstörung treiben.
Nicht immer ist daher der Egoismus schon als ein Laster zu schelten nennen, da mit diesem Namen leider auch jene Fälle gedeckt werden, wo in denen man nur das Recht hat zu sagen, daß der Altruismus noch nicht erlernt wurde; u. denn nur darauf allein kommt es an: Auch Liebe u. Altruismus wollen gelernt werden. Da sie die Hilfeleistung an das geliebte Wesen zum Inhalt haben, so versteht es sich, daß Hilfe nicht geleistet werden kann, wenn man nicht weiß, worin sie zu bestehen hat. Jeder Fall ist eben ein besonderer u. so hat jedes liebende Individuum eine besondere Aufgabe, die in besonderer Weise zu lösen ist. Daher ist es nötig, den Geist in Lösungsmöglichkeiten zu üben u. zu schulen, um die Aufgabe zu lösen.

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Die Welt ist heute von Sehnsucht nach neuen Idealen erfüllt, nachdem sie der Tautologie müde geworden, die sie durch etwa 2–3 Jahrzehnte hindurch pflegte. Sie ist müde geworden, sich von den Dichtern u. Gelehrten das auf der Bühne, im Werk, vormachen zu lassen, was sie selbst sehen konnte; sie will mehr, weiß aber nicht was! Dem Uebel ist nicht zu helfen: Hat doch die Welt die Ideale verabschiedet, nicht, weil sie sie, wie sie glaubt, erschöpft hätte, sondern bevor sie auch nur den ersten Schritt in die Geheimnisse gemacht hat. Und wenn nun die Tautologie sie nicht mehr befriedigt, so kann sie, in Ermanglung einer ordentlichen Beziehung zu den Idealen, unmöglich eine Forderung präcisiren. Was sollte sie denn auch verlangen können, das sie doch nicht einmal weiß, daß was sie verlangt, ihr schon längst erfüllt worden. Es würde sich daher empfehlen , zuerst zu begreifen, wie sehr die Sehnsucht der Menschheit von Genies im Grunde ja schon längst zur Erfüllung gebracht worden ist . , Uund diese Erfüllung bis ans Ende aller Zeiten zu {263} genießen, statt unberechtigter- u. undankbarerweise neue Forderungen aufzustellen.
So im Größten, wie im Kleinsten.
Auch Frauen lieben es, bevor sie noch die Erfüllung ihrer eigenen Forderungen sehen gelernt haben, geschwiege genossen, Forderungen aufzustellen, als wären sie diese nicht schon erfüllt geworden!
Und auch in der Kunst begegnen wir derselben Erscheinung; wornach sich z. B. die musikalische Welt heute sehnt, ist längst durch unsere Genies zur Erfüllung gebracht worden, aber sie sehen nicht was sie sehen u. sie hören nicht was sie hören u. verlangen eben daher nach Neuem. (s. Vorrede zur „Braut v. Messina [“].) 1

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© Transcription Marko Deisinger.

October 30.

In these times of great hardship, the cry is sounded ever louder {261} for "whole people," especially for a "great man."
In fact, the world without the center of a genius is merely a [state of] chaos. The despair and poverty in driving forces, pushes towards reciprocal massacres. I suspect that the mass migrations that have been transmitted to us by historians should not be understood as extraordinary positive accomplishments of kings or rulers to whom [the quality of] a genius should be ascribed, but should necessarily be reinterpreted merely as the products of general instability. If one disregards fame, which at least does not recognize the difference between genius and non-genius, the famous rules in the times of mass migration were not driving forces, but were merely enigmatically driven themselves.
Expressed in musical terms, today's world is lacking a clear tonality, because it lacks the tonic of a genius.

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Nothing is more alien to a child than love for other beings. Instinctively it seeks merely to acquire the means that will serve to build up his organism, and does so by the suppression of intellectual resources – a characteristic that may not disreputably be ascribed to the animal kingdom to which mankind belongs, a mankind that [itself] finds it so difficult to understand the practical use of such resources. Altruism as love of other people is basically not innate, it must therefore first be learned! One gains an initial, indeed modest glimpse of altruism within one's erotic activity; that is, one is in essence led to a second person only via the erotic bridge. Yet even this modest form of altruism pales at the moment that the individuals are not sufficiently strong; the altruism to the whole of humanity is, however, present only in the genius. Only the genius is capable of understanding the practical value of altruism! Unfortunately, it preaches this in vain to people who, in their unbridled pursuit of profit {262} and their ignorance, perpetrate destruction.
For this reason, egoism should not always be rebuked as a vice, since unfortunately this term also covers those cases in which one merely has the right to say that altruism had not yet been learned. For all that matters is this: even love and altruism need to be learned. Since their purpose is to provide support for the loved one, it is clear that help cannot be provided if one does not know what it consists of. Each case is actually a special one, and so every loving individual has a special problem, which is to be solved in a special way. For this reason, it is necessary to exercise and instruct the intellect in the possible ways of [finding] solutions in order to solve problems.

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Today the world is filled with yearning after new ideals, after it grew tired of the tautology which it cultivated over a period of about two to three decades. It is tired of letting its poets and intellectuals show on stage, in their work, what it can see for itself. It wants more, but does not know what! This malady cannot be cured: for the world dismissed the ideals not, as it believes, because it had exhausted them, but rather before it has even taken the first step to discovering their secrets. And if now the tautology no longer satisfies it, then, in the absence of a proper relationship to the ideals, it is no longer possible to express its requirements precisely. What, then, should it even be able to demand, as it does not yet know that what it demands has already been granted to it? It would thus be recommended to begin by understanding how much humanity's yearning has already been brought to fulfillment by geniuses long ago, and also to enjoy this fulfillment until the end of time, {262} instead of unjustifiably and ungratefully making new demands.
Thus at the highest level, as well as the lowest.
Women, too, like to make demands before they have even learned to see the fulfillment of their own demands, to say nothing of enjoying this, as if theirs had not already been fulfilled!
And in art, too, we encounter the same phenomenon: that which, for instance, the musical world longs for today has long ago been brought to fulfillment by our geniuses. But it does not see what it looks at and cannot hear what it hears, and for this very reason it demands something new (see the prologue to The Bride of Messina). 1

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© Translation William Drabkin.

Footnotes

1 A drama by Schiller, written in 1803.