30. X.
In diesen Zeiten schwerer Not ertönt immer
lauter der Ruf nach {261} nach „ganzen
Menschen“, besonders nach einem „großen
Manne“.
Nichts ist dem Kinde fremder, als die Liebe
zu anderen Wesen; instinktiv sucht es blos jener Mittel habhaft zu werden, die zum
Aufbau seines Organismus dienen, mit einer dem Tiere, als welches der Mensch zu
betrachten ist, nicht unrechtschaffen zustehenden Ausschaltung der geistigen Mittel,
deren praktischen Nutzen der Mensch überhaupt so schwer einsieht. Altruismus als
Liebe zu den anderen Menschen ist im Grunde nicht angeboren u. muß daher erst gelernt werden
.
!
Einen ersten ja
bescheidenen Einblick in den Altruismus gewinnt der Mensch erst innerhalb seiner erotischen
Betätigung, d. h. zum zweiten Menschen führt ihn im Grunde nur die erotische Brücke
allein. Doch auch dieser bescheidene Altruismus verblaßt, sobald
wenn [sic] die Individuen nicht stark genug sind
u.; der Altruismus zur ganzen Menschheit findet sich aber nur beim
Genie allein ein. Nur das Genie vermag
den praktischen Wert des Altruismus zu verstehen! Leider predigt es diesen vergeblich
den Menschen, die vor lauter Sucht nach Nutzen aus Un- {262} verstand
Zerstörung treiben.
Die Welt ist heute von Sehnsucht nach neuen
Idealen erfüllt, nachdem sie der Tautologie müde geworden, die sie durch etwa 2–3 Jahrzehnte hindurch
pflegte. Sie ist müde geworden, sich von den Dichtern u. Gelehrten das auf der Bühne,
im Werk, vormachen zu lassen, was sie selbst sehen konnte; sie will mehr, weiß aber
nicht was! Dem Uebel ist nicht zu helfen: Hat doch die Welt die Ideale verabschiedet,
nicht, weil sie sie, wie sie glaubt, erschöpft hätte, sondern bevor sie auch nur den
ersten Schritt in die Geheimnisse gemacht hat. Und wenn nun die Tautologie sie nicht
mehr befriedigt, so kann sie, in Ermanglung einer ordentlichen Beziehung zu den
Idealen, unmöglich eine Forderung präcisiren. Was sollte sie denn auch verlangen
können, das sie doch nicht einmal weiß, daß was sie verlangt, ihr schon längst erfüllt worden. Es
würde sich daher empfehlen , zuerst
zu begreifen, wie sehr die Sehnsucht der Menschheit von Genies
im Grunde ja schon längst zur Erfüllung gebracht worden ist
.
,
Uund diese Erfüllung bis ans Ende aller Zeiten zu {263}
genießen, statt unberechtigter- u. undankbarerweise neue Forderungen
aufzustellen. © Transcription Marko Deisinger. |
October 30.
In these times of great hardship, the cry
is sounded ever louder {261} for "whole
people," especially for a "great
man."
Nothing is more alien to a child than love
for other beings. Instinctively it seeks merely to acquire the means that will serve
to build up his organism, and does so by the suppression of intellectual resources –
a characteristic that may not disreputably be ascribed to the animal kingdom to which
mankind belongs, a mankind that [itself]
finds it so difficult to understand the practical use of such resources. Altruism as
love of other people is basically not innate, it must
therefore
first
be learned! One gains an initial, indeed modest glimpse of altruism within one's erotic
activity; that is, one is in essence led to a second person only via the erotic
bridge. Yet even this modest form of altruism pales at the moment that the
individuals are not sufficiently strong; the altruism to the whole of humanity is, however,
present only in the genius. Only the genius
is capable of understanding the practical value of altruism! Unfortunately, it
preaches this in vain to people who, in their unbridled pursuit of profit {262} and their ignorance, perpetrate destruction.
Today the world is filled with yearning
after new ideals, after it grew tired of the tautology which it cultivated over a
period of about two to three decades. It is tired of letting its poets and
intellectuals show on stage, in their work, what it can see for itself. It wants
more, but does not know what! This malady cannot be cured: for the world dismissed
the ideals not, as it believes, because it had exhausted them, but rather before it
has even taken the first step to discovering their secrets. And if now the tautology
no longer satisfies it, then, in the absence of a proper relationship to the ideals,
it is no longer possible to express its requirements precisely. What, then, should it
even be able to demand, as it does not yet know that what it demands has already been
granted to it? It would thus
be recommended to begin by understanding how much humanity's yearning has already
been brought to fulfillment by geniuses long ago, and also to
enjoy this fulfillment until the end of time, {262} instead of
unjustifiably and ungratefully making new demands. © Translation William Drabkin. |
30. X.
In diesen Zeiten schwerer Not ertönt immer
lauter der Ruf nach {261} nach „ganzen
Menschen“, besonders nach einem „großen
Manne“.
Nichts ist dem Kinde fremder, als die Liebe
zu anderen Wesen; instinktiv sucht es blos jener Mittel habhaft zu werden, die zum
Aufbau seines Organismus dienen, mit einer dem Tiere, als welches der Mensch zu
betrachten ist, nicht unrechtschaffen zustehenden Ausschaltung der geistigen Mittel,
deren praktischen Nutzen der Mensch überhaupt so schwer einsieht. Altruismus als
Liebe zu den anderen Menschen ist im Grunde nicht angeboren u. muß daher erst gelernt werden
.
!
Einen ersten ja
bescheidenen Einblick in den Altruismus gewinnt der Mensch erst innerhalb seiner erotischen
Betätigung, d. h. zum zweiten Menschen führt ihn im Grunde nur die erotische Brücke
allein. Doch auch dieser bescheidene Altruismus verblaßt, sobald
wenn [sic] die Individuen nicht stark genug sind
u.; der Altruismus zur ganzen Menschheit findet sich aber nur beim
Genie allein ein. Nur das Genie vermag
den praktischen Wert des Altruismus zu verstehen! Leider predigt es diesen vergeblich
den Menschen, die vor lauter Sucht nach Nutzen aus Un- {262} verstand
Zerstörung treiben.
Die Welt ist heute von Sehnsucht nach neuen
Idealen erfüllt, nachdem sie der Tautologie müde geworden, die sie durch etwa 2–3 Jahrzehnte hindurch
pflegte. Sie ist müde geworden, sich von den Dichtern u. Gelehrten das auf der Bühne,
im Werk, vormachen zu lassen, was sie selbst sehen konnte; sie will mehr, weiß aber
nicht was! Dem Uebel ist nicht zu helfen: Hat doch die Welt die Ideale verabschiedet,
nicht, weil sie sie, wie sie glaubt, erschöpft hätte, sondern bevor sie auch nur den
ersten Schritt in die Geheimnisse gemacht hat. Und wenn nun die Tautologie sie nicht
mehr befriedigt, so kann sie, in Ermanglung einer ordentlichen Beziehung zu den
Idealen, unmöglich eine Forderung präcisiren. Was sollte sie denn auch verlangen
können, das sie doch nicht einmal weiß, daß was sie verlangt, ihr schon längst erfüllt worden. Es
würde sich daher empfehlen , zuerst
zu begreifen, wie sehr die Sehnsucht der Menschheit von Genies
im Grunde ja schon längst zur Erfüllung gebracht worden ist
.
,
Uund diese Erfüllung bis ans Ende aller Zeiten zu {263}
genießen, statt unberechtigter- u. undankbarerweise neue Forderungen
aufzustellen. © Transcription Marko Deisinger. |
October 30.
In these times of great hardship, the cry
is sounded ever louder {261} for "whole
people," especially for a "great
man."
Nothing is more alien to a child than love
for other beings. Instinctively it seeks merely to acquire the means that will serve
to build up his organism, and does so by the suppression of intellectual resources –
a characteristic that may not disreputably be ascribed to the animal kingdom to which
mankind belongs, a mankind that [itself]
finds it so difficult to understand the practical use of such resources. Altruism as
love of other people is basically not innate, it must
therefore
first
be learned! One gains an initial, indeed modest glimpse of altruism within one's erotic
activity; that is, one is in essence led to a second person only via the erotic
bridge. Yet even this modest form of altruism pales at the moment that the
individuals are not sufficiently strong; the altruism to the whole of humanity is, however,
present only in the genius. Only the genius
is capable of understanding the practical value of altruism! Unfortunately, it
preaches this in vain to people who, in their unbridled pursuit of profit {262} and their ignorance, perpetrate destruction.
Today the world is filled with yearning
after new ideals, after it grew tired of the tautology which it cultivated over a
period of about two to three decades. It is tired of letting its poets and
intellectuals show on stage, in their work, what it can see for itself. It wants
more, but does not know what! This malady cannot be cured: for the world dismissed
the ideals not, as it believes, because it had exhausted them, but rather before it
has even taken the first step to discovering their secrets. And if now the tautology
no longer satisfies it, then, in the absence of a proper relationship to the ideals,
it is no longer possible to express its requirements precisely. What, then, should it
even be able to demand, as it does not yet know that what it demands has already been
granted to it? It would thus
be recommended to begin by understanding how much humanity's yearning has already
been brought to fulfillment by geniuses long ago, and also to
enjoy this fulfillment until the end of time, {262} instead of
unjustifiably and ungratefully making new demands. © Translation William Drabkin. |
Footnotes1 A drama by Schiller, written in 1803. |