Lauenstein i. Hannover,
d. 24. 9. 08.
diktiert!

Sehr geehrter Herr! 1

Ein Unwohlsein zwingt mich heute zu diktiren; aber ich mag doch dank und Antwort nicht länger hinausschieben, nachdem Sie mir durch Ihren ebenso lieben wie bedeutungsvollen Brief 2 und nunmehr auch durch die tatsächlich eingetroffene Harmonielehre die größte Freude bereitet haben: 3 Natürlich habe ich einstweilen nur Blicke in Ihr Werk gethan, aber dieses flüchtige Hineinsehen genügt doch schon, um mich wißen zu machen, von welchem Wert Ihre Arbeit ist.

Schon Ihre Auffassung des Begriffs der Harmonielehre, die Schärfe, mit {2} der Sie ausscheiden, was eigentlich dem Contrapunkt angehört, gefällt mir in hohem Grade. Aber die Hauptsache bleibt, daß ich sehe, mit welchen Waffen Sie gegen die Mächte des Umsturzes zu Felde ziehen, die es so weit gebracht haben, daß heute die Unvernunft aller Arten auf dem Thron sitzt, und für die echte Schönheit kaum noch in verborgenen Ecken ein bescheidenes Plätzchen übrig geblieben ist. Wenn ich zusammenhalte, was Sie mir über Ihre Pläne im Großen schreiben, und was ich aus Ihrer Harmonielehre bis jetzt herausgelesen habe, so glaube und hoffe ich, daß Sie der ersehnte Berufene sind, der endlich die Brandfackel in den {3} babӱlonischen Turm wirft. 4

Niemand wagt heute mehr, den Namen Richard Wagner auszusprechen, ohne anbetend auf den Knieen zu liegen, während es doch gewiß ist, daß von einer Gesundung unserer Kunstzustände erst dann die Rede sein kann, wenn der wahnwitzige Molochdienst, den man gerade mit diesem musikalischen Napoleon treibt, ein für alle Mal aus der Welt geschafft ist. Wer wollte die elementare Gewalt, die in Wagners Persönlichkeit liegt, leugnen! Er ist der Einzige unter den „Modernen“, der Etwas zu sagen hat, und sogar in sehr vereinzelten Augenblicken Dinge, um derentwillen man ihn lieben dürfte. Aber was {4} hat das zu bedeuten seiner Totalität gegenüber! 5

Sie nennen ihn ein schädliches Genie. 6 Kann man aber das Wort „Genie“ überhaupt auf ihn anwenden? Vielleicht, wenn man „Genie“ und „Genius“ unterscheidet; denn ein Genius stammt vom Licht und führt zum Licht; Wagner aber ist ein viel zu unsauberer Geist in jedem Betracht, als daß er zu den Wohltätern der Menschheit gerechnet werden könnte. Doch ich bin nicht im Mindesten dazu aufgelegt, um Worte zu streiten, wo ich mich im Wesen der Sache Eins mit Ihnen weiß.

Nehmen Sie nochmals Dank und herzlichen Gruß


Ihres sehr ergebenen
[signed:] Ernst Rudorff

[continued in left margins of pp. 4, 3, and 2, top to bottom:] Ich habe den Härtel’schen Verlag aufgefordert, Ihnen ein Exemplar der Beyschlag ’schen Ornamentik 7 in meinem Namen [p. 3:] zuzuschicken. Hoffentlich ist das geschehen! Ich [p. 2:] freue mich schon darauf, wie Sie in Ihrem zweiten oder dritten? Band den scheußlichen Wagner ’schen Contrapunkt herunterkanzeln werden!

© Transcription Ian Bent, 2017


Lauenstein in Hannover
September 24, 1908
dictated!

Dear Sir, 1

I am unwell today, so am driven to dictating this letter; but I cannot possibly delay any longer sending my thanks and an answer, after you have afforded me the greatest joy with your delightful and no less meaningful letter, 2 and now also with your Theory of Harmony , which has just arrived: 3 Naturally, I have in the meanwhile only dipped into your book, but this fleeting glance through is already ample to make plain to me how valuable your work is.

Already your conceptualizing of the theory of harmony, and the incisiveness with {2} which you distinguish what properly belongs to counterpoint, pleases me to the highest degree. The main thing is, however, that I see what weapons you bring to bear against the forces of subversion that have brought us to such a pass that today unreason of all sorts reigns supreme, and genuine beauty finds scarcely a modest foothold still remaining in remote corners. When I put together what you have told me of your plans as a whole and what I have imbibed so far from your Theory of Harmony , then I believe and hope that you are the longed-for chosen one who will finally hurl the blazing torch into the {3} Tower of Babel. 4

No one today any longer dares utter the name "Richard Wagner" without dropping to their knees in adoration, whereas it is abundantly clear that there can be no talk of a recovery for the current state of our art before the lunatic cult of the malign force that is directly promoted with this musical Napoleon is once and for all driven from the face of the earth. Who would deny the elemental power that lies in Wagner's personality! Among the "moderns," he is the only one who has anything to say, and even ‒ in extremely rare moments ‒ says things for which one might love him. But of what {4} significance is that when set against the totality of the man! 5

You call him a "malign genius." 6 But is the word "genius" applicable to him at all? Perhaps, if a distinction be made between the person and the property of genius: for the latter stems from light and leads to light; Wagner, however, is far too unwholesome a spirit in that regard to be counted among the beneficent members of humankind. But I am not in the least inclined to quibble over words when I know myself to be in essence of one mind with you on the matter.

Please accept once again my thanks and cordial greetings


of your very devoted
[signed:] Ernst Rudorff

[continued in left margins of pp. 4, 3, and 2, top to bottom:] I have asked the Härtel publishing house to send you a copy of the Beyschlag Ornamentation in my name. 7 [p. 3:] I hope that has happened! I [p. 2:] am already looking forward to seeing in your second or third (?) volume how you admonish the dreadful Wagnerian counterpoint!

© Translation Ian Bent, 2017


Lauenstein i. Hannover,
d. 24. 9. 08.
diktiert!

Sehr geehrter Herr! 1

Ein Unwohlsein zwingt mich heute zu diktiren; aber ich mag doch dank und Antwort nicht länger hinausschieben, nachdem Sie mir durch Ihren ebenso lieben wie bedeutungsvollen Brief 2 und nunmehr auch durch die tatsächlich eingetroffene Harmonielehre die größte Freude bereitet haben: 3 Natürlich habe ich einstweilen nur Blicke in Ihr Werk gethan, aber dieses flüchtige Hineinsehen genügt doch schon, um mich wißen zu machen, von welchem Wert Ihre Arbeit ist.

Schon Ihre Auffassung des Begriffs der Harmonielehre, die Schärfe, mit {2} der Sie ausscheiden, was eigentlich dem Contrapunkt angehört, gefällt mir in hohem Grade. Aber die Hauptsache bleibt, daß ich sehe, mit welchen Waffen Sie gegen die Mächte des Umsturzes zu Felde ziehen, die es so weit gebracht haben, daß heute die Unvernunft aller Arten auf dem Thron sitzt, und für die echte Schönheit kaum noch in verborgenen Ecken ein bescheidenes Plätzchen übrig geblieben ist. Wenn ich zusammenhalte, was Sie mir über Ihre Pläne im Großen schreiben, und was ich aus Ihrer Harmonielehre bis jetzt herausgelesen habe, so glaube und hoffe ich, daß Sie der ersehnte Berufene sind, der endlich die Brandfackel in den {3} babӱlonischen Turm wirft. 4

Niemand wagt heute mehr, den Namen Richard Wagner auszusprechen, ohne anbetend auf den Knieen zu liegen, während es doch gewiß ist, daß von einer Gesundung unserer Kunstzustände erst dann die Rede sein kann, wenn der wahnwitzige Molochdienst, den man gerade mit diesem musikalischen Napoleon treibt, ein für alle Mal aus der Welt geschafft ist. Wer wollte die elementare Gewalt, die in Wagners Persönlichkeit liegt, leugnen! Er ist der Einzige unter den „Modernen“, der Etwas zu sagen hat, und sogar in sehr vereinzelten Augenblicken Dinge, um derentwillen man ihn lieben dürfte. Aber was {4} hat das zu bedeuten seiner Totalität gegenüber! 5

Sie nennen ihn ein schädliches Genie. 6 Kann man aber das Wort „Genie“ überhaupt auf ihn anwenden? Vielleicht, wenn man „Genie“ und „Genius“ unterscheidet; denn ein Genius stammt vom Licht und führt zum Licht; Wagner aber ist ein viel zu unsauberer Geist in jedem Betracht, als daß er zu den Wohltätern der Menschheit gerechnet werden könnte. Doch ich bin nicht im Mindesten dazu aufgelegt, um Worte zu streiten, wo ich mich im Wesen der Sache Eins mit Ihnen weiß.

Nehmen Sie nochmals Dank und herzlichen Gruß


Ihres sehr ergebenen
[signed:] Ernst Rudorff

[continued in left margins of pp. 4, 3, and 2, top to bottom:] Ich habe den Härtel’schen Verlag aufgefordert, Ihnen ein Exemplar der Beyschlag ’schen Ornamentik 7 in meinem Namen [p. 3:] zuzuschicken. Hoffentlich ist das geschehen! Ich [p. 2:] freue mich schon darauf, wie Sie in Ihrem zweiten oder dritten? Band den scheußlichen Wagner ’schen Contrapunkt herunterkanzeln werden!

© Transcription Ian Bent, 2017


Lauenstein in Hannover
September 24, 1908
dictated!

Dear Sir, 1

I am unwell today, so am driven to dictating this letter; but I cannot possibly delay any longer sending my thanks and an answer, after you have afforded me the greatest joy with your delightful and no less meaningful letter, 2 and now also with your Theory of Harmony , which has just arrived: 3 Naturally, I have in the meanwhile only dipped into your book, but this fleeting glance through is already ample to make plain to me how valuable your work is.

Already your conceptualizing of the theory of harmony, and the incisiveness with {2} which you distinguish what properly belongs to counterpoint, pleases me to the highest degree. The main thing is, however, that I see what weapons you bring to bear against the forces of subversion that have brought us to such a pass that today unreason of all sorts reigns supreme, and genuine beauty finds scarcely a modest foothold still remaining in remote corners. When I put together what you have told me of your plans as a whole and what I have imbibed so far from your Theory of Harmony , then I believe and hope that you are the longed-for chosen one who will finally hurl the blazing torch into the {3} Tower of Babel. 4

No one today any longer dares utter the name "Richard Wagner" without dropping to their knees in adoration, whereas it is abundantly clear that there can be no talk of a recovery for the current state of our art before the lunatic cult of the malign force that is directly promoted with this musical Napoleon is once and for all driven from the face of the earth. Who would deny the elemental power that lies in Wagner's personality! Among the "moderns," he is the only one who has anything to say, and even ‒ in extremely rare moments ‒ says things for which one might love him. But of what {4} significance is that when set against the totality of the man! 5

You call him a "malign genius." 6 But is the word "genius" applicable to him at all? Perhaps, if a distinction be made between the person and the property of genius: for the latter stems from light and leads to light; Wagner, however, is far too unwholesome a spirit in that regard to be counted among the beneficent members of humankind. But I am not in the least inclined to quibble over words when I know myself to be in essence of one mind with you on the matter.

Please accept once again my thanks and cordial greetings


of your very devoted
[signed:] Ernst Rudorff

[continued in left margins of pp. 4, 3, and 2, top to bottom:] I have asked the Härtel publishing house to send you a copy of the Beyschlag Ornamentation in my name. 7 [p. 3:] I hope that has happened! I [p. 2:] am already looking forward to seeing in your second or third (?) volume how you admonish the dreadful Wagnerian counterpoint!

© Translation Ian Bent, 2017

Footnotes

1 Receipt of this letter is not recorded in Schenker's diary. An excerpt from this draft (from "Schon Ihre Auffassung ..." to the end) is transcribed by Hellmut Federhofer in Heinrich Schenker nach Tagebüchern ... (Hildesheim: Georg Olms, 1985), pp. 200‒01, and this was used as an initial basis for the present transcription. The document numbers for OJ 13/37 (1‒15) were established by Oswald Jonas in his inventory of the Schenker/Rudorff correspondence at OJ 59/15.

2 = OJ 5/35, [2], September 17, 1908.

3 OJ 12/27, [7], September 18, 1908 notifies Schenker in the postscript that a copy of Harmonielehre has been dispatched to Ernst Rudorff.

4 No paragraph-break in the original at this point.

5 No paragraph-break in the original at this point.

6 This phrase is not to be found in Schenker's Harmonielehre; nor does it occur in OJ 5/35, [2]. Perhaps Schenker incorporated it into the final text of OJ 5/35, [2] subsequent to this draft.

7 A copy of this work in its 1908 edition was in Schenker's personal library at his death, described as "paperbound, binding loose": Musik und Theater enthaltend die Bibliothek des Herrn †Dr Heinrich Schenker, Wien (Vienna: Heinrich Hinterberger, [1936]), item 67. — Rudorff first mentions this work to Schenker in OJ 13/37, 2.