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OJ 12/59, [4] - Handwritten letter from Siegfried Fritz Müller to Schenker, dated November 13, 1923
Nun sitz ich wirklich in einem eigenen Schulzimmer und gebe Stunden. 2 Es ist ja manchmal ein sehr zweifelhaftes Vergnügen; denn der hoffnungslosen Fälle sind gar viele. Aber im Ganzen ist es doch recht interessant, zu sehen, wie die Verschiedenen reagieren (oder auch nicht). Ich bin also bis jetzt mit der Komödie zweiten Teil, die man so den Ernst des Lebens nennt, ganz zufrieden, es ist ja doch ein schönes Gefühl, auf eigenen Beinen zu stehen. Zum Arbeiten bleibt mir, wenn ich die Abende dazu mitverwende, Zeit genug, und ich freue mich sehr, Ihnen wieder vorspielen zu dürfen. Ich habe die Absicht, im Frühling auf etwa drei Wochen nach Wien zu kommen und dann so viele Stunden bei Ihnen zu nehmen, als Sie es ermöglichen können. 3 Ich habe mich jetzt energisch hinter das Studium Ihrer Werke gemacht und glaube jetzt im Zusammenhang vieles zu verstehen, was mir fremd geblieben ist. Ich habe auch das Buch von Dahms gelesen, 4 bin aber nicht so recht begeistert davon. Ich zweifle denn doch daran, ob man Nietzsche in der Art als Kronzeugen in musikalischen Dingen anrufen kann, wie es hier geschieht. {2} Und zum zweiten schmückt er sich dann doch etwas gar hehr mit fremden Federn 5 (nämlich mit den Ihrigen). Aber die sehr gewandte Art, wie er dieser schwierigen Materie Herr wird, ohne sich durch (wahrscheinlich doch falsche) nähere Erläuterung seiner Behauptungen an Beispielen Klären zu geben, so daß man also ein recht —mist, was er eigentlich kann und ist, ferner der fließende, nur vielleicht all zu literaturhafte Mist, diese Eigenschaften werden vielleicht doch dem [recte durch den] ganzen Gedankenkreis neue Freunde gewinnen und schließlich ist es dann ja gleich, durch wenn sie gewonnen sind. Nur hätte er Sie schon etwas mehr als den eigentlichen Schöpfer seiner Gedanken darstellen können. Karl Bamberger hat mir aus Finnland eine Karte geschrieben, über die ich mich sehr gefreut habe. 6 Es scheint ihm glänzend zu gehen, ins besonderes kann er weiter bei Ihnen studieren, folglich ist er sowieso zu beneiden. Ich laß ihn recht schön grüßen, seine Adresse habe ich wieder einmal verloren. Nun zum Schluß bitte ich Sie noch recht sehr, mein langes Stillschweigen zu entschuldigen, es ist nicht so leicht, plötzlich ein „selbständiger“ Mensch zu werden, man verliert dabei öfters das (seelische) Gleichgewicht. Mit den allerbesten Grüßen verbleibe ich allezeit Ihr sehr ergebener, dankbarer Schüler [signed:] Fritz Müller St. Gallen, 13. Nov. 23. © Transcription Ian Bent, 2022 |
Here I am, actually sitting in a schoolroom of my own, giving lessons! 2 It is occasionally a dubious pleasure, for there are a great many hopeless cases. But on the whole it is genuinely very interesting to see how the different pupils react (or don’t react). Thus I am, up to now, content with the second act of the comedy, entitled “The serious side of life.” Indeed, it is a very good feeling to be standing on one’s own two feet. For work, there remains for me, if I devote the evenings to it, time enough, and I would be really pleased if I might play to you again. I intend to come to Vienna in the Spring for perhaps three weeks, and to take as many lessons with you as you can accommodate. 3 I have thrown myself energetically behind the studying of your writings, and believe that I now understand much that I did not understand hitherto. I have also read the book by Dahms, 4 but am not all that excited by it. [First,] I really do doubt whether one can invoke Nietzsche as star witness in matters musical, as happens here. {2} And second, he adorns himself then somewhat loftily with the writings 5 of others (particularly yours). But the kindred way in which he becomes master of this difficult material without offering clarification by way of examples for the (patently false) detailed elucidation of his claims, leaving one in total confusion as to what he really is and can do; and furthermore, this verbage, fluent yet perhaps all-too-high-flown; these qualities will perhaps through his whole intellectual apparatus win over new friends, in which case it is ultimately immaterial through whom they are won. If only he had been able to identify you rather more as the true creative source of his thoughts. Carl Bamberger has written me a postcard from Finland that has given me much pleasure. 6 Things seem to be going splendidly with him; in particular he can study further with you, and for that, at any rate, he is to be envied. I sent him my warm greetings, [but] have once again lost his address. Now to close, I beg you yet again to forgive me my long silence. It is not so easy suddenly to become an “independent” person; in so doing, one often loses one’s (spiritual) equilibrium. With my very warmest greetings, I remain for ever your very devoted, grateful pupil [signed:] Fritz Müller St. Gallen, November 13, 1923 © Translation Ian Bent, 2022 |
Nun sitz ich wirklich in einem eigenen Schulzimmer und gebe Stunden. 2 Es ist ja manchmal ein sehr zweifelhaftes Vergnügen; denn der hoffnungslosen Fälle sind gar viele. Aber im Ganzen ist es doch recht interessant, zu sehen, wie die Verschiedenen reagieren (oder auch nicht). Ich bin also bis jetzt mit der Komödie zweiten Teil, die man so den Ernst des Lebens nennt, ganz zufrieden, es ist ja doch ein schönes Gefühl, auf eigenen Beinen zu stehen. Zum Arbeiten bleibt mir, wenn ich die Abende dazu mitverwende, Zeit genug, und ich freue mich sehr, Ihnen wieder vorspielen zu dürfen. Ich habe die Absicht, im Frühling auf etwa drei Wochen nach Wien zu kommen und dann so viele Stunden bei Ihnen zu nehmen, als Sie es ermöglichen können. 3 Ich habe mich jetzt energisch hinter das Studium Ihrer Werke gemacht und glaube jetzt im Zusammenhang vieles zu verstehen, was mir fremd geblieben ist. Ich habe auch das Buch von Dahms gelesen, 4 bin aber nicht so recht begeistert davon. Ich zweifle denn doch daran, ob man Nietzsche in der Art als Kronzeugen in musikalischen Dingen anrufen kann, wie es hier geschieht. {2} Und zum zweiten schmückt er sich dann doch etwas gar hehr mit fremden Federn 5 (nämlich mit den Ihrigen). Aber die sehr gewandte Art, wie er dieser schwierigen Materie Herr wird, ohne sich durch (wahrscheinlich doch falsche) nähere Erläuterung seiner Behauptungen an Beispielen Klären zu geben, so daß man also ein recht —mist, was er eigentlich kann und ist, ferner der fließende, nur vielleicht all zu literaturhafte Mist, diese Eigenschaften werden vielleicht doch dem [recte durch den] ganzen Gedankenkreis neue Freunde gewinnen und schließlich ist es dann ja gleich, durch wenn sie gewonnen sind. Nur hätte er Sie schon etwas mehr als den eigentlichen Schöpfer seiner Gedanken darstellen können. Karl Bamberger hat mir aus Finnland eine Karte geschrieben, über die ich mich sehr gefreut habe. 6 Es scheint ihm glänzend zu gehen, ins besonderes kann er weiter bei Ihnen studieren, folglich ist er sowieso zu beneiden. Ich laß ihn recht schön grüßen, seine Adresse habe ich wieder einmal verloren. Nun zum Schluß bitte ich Sie noch recht sehr, mein langes Stillschweigen zu entschuldigen, es ist nicht so leicht, plötzlich ein „selbständiger“ Mensch zu werden, man verliert dabei öfters das (seelische) Gleichgewicht. Mit den allerbesten Grüßen verbleibe ich allezeit Ihr sehr ergebener, dankbarer Schüler [signed:] Fritz Müller St. Gallen, 13. Nov. 23. © Transcription Ian Bent, 2022 |
Here I am, actually sitting in a schoolroom of my own, giving lessons! 2 It is occasionally a dubious pleasure, for there are a great many hopeless cases. But on the whole it is genuinely very interesting to see how the different pupils react (or don’t react). Thus I am, up to now, content with the second act of the comedy, entitled “The serious side of life.” Indeed, it is a very good feeling to be standing on one’s own two feet. For work, there remains for me, if I devote the evenings to it, time enough, and I would be really pleased if I might play to you again. I intend to come to Vienna in the Spring for perhaps three weeks, and to take as many lessons with you as you can accommodate. 3 I have thrown myself energetically behind the studying of your writings, and believe that I now understand much that I did not understand hitherto. I have also read the book by Dahms, 4 but am not all that excited by it. [First,] I really do doubt whether one can invoke Nietzsche as star witness in matters musical, as happens here. {2} And second, he adorns himself then somewhat loftily with the writings 5 of others (particularly yours). But the kindred way in which he becomes master of this difficult material without offering clarification by way of examples for the (patently false) detailed elucidation of his claims, leaving one in total confusion as to what he really is and can do; and furthermore, this verbage, fluent yet perhaps all-too-high-flown; these qualities will perhaps through his whole intellectual apparatus win over new friends, in which case it is ultimately immaterial through whom they are won. If only he had been able to identify you rather more as the true creative source of his thoughts. Carl Bamberger has written me a postcard from Finland that has given me much pleasure. 6 Things seem to be going splendidly with him; in particular he can study further with you, and for that, at any rate, he is to be envied. I sent him my warm greetings, [but] have once again lost his address. Now to close, I beg you yet again to forgive me my long silence. It is not so easy suddenly to become an “independent” person; in so doing, one often loses one’s (spiritual) equilibrium. With my very warmest greetings, I remain for ever your very devoted, grateful pupil [signed:] Fritz Müller St. Gallen, November 13, 1923 © Translation Ian Bent, 2022 |
Footnotes1 Receipt of this letter is recorded in Schenker’s diary for November 15, 1923: “Von Fritz Müller (Br.): im Grunde überraschend; arbeitet jetzt nach meinen Werken; spricht sich über Dahms’ Buch recht vernünftig aus; verargt es ihm, daß er zu wenig dessen geistigen Urheber einbekennt. Hofft im Frühling kommen zu können!” (“From Fritz Müller (letter): basically surprising; is now working according to my writings; expresses himself very rationally about Dahms's book; holds it against [the author] that he insufficiently acknowledges [the book's] intellectual originator. Hopes to be able to come in the Spring!”). 2 For this, see OJ 12/59, [2], July 12, OJ 12/58, [1], July 19, and OJ 12/58, [2], July 20, 1923. 3 Müller writes continuously without paragraph-break at this point. 4 Walter Dahms, Die Offenbarung der Musik: Eine Apotheose Friedrich Nietzsches (Munich: Musarion, 1922). 5 “Feder”: a play on words with “feathers”/”pens”: “adorns himself with feathers” = “appropriates the pens.” 6 Cf. Schenker’s diary for September 13, 1923 records: “From Bamberger […] is on a Finnish tour ….” Bamberger was in Helsinki on November 3, 1923, and back in Vienna by November 14. On November 18 Schenker’s diary recalls: “8:00–11:30 Bamberger; tells about his trip, his experiences in the [concert?] hall, with the people in Finland, Sweden, Berlin.” |
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Commentary
Digital version created: 2022-05-09 |