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OJ 10/3, [105] - Handwritten letter from Deutsch to Schenker, dated August 21, 1929
⇧ PROF. OTTO ERICH DEUTSCH WIEN II. Böcklinstraße 26 ⇧ Seewalchen, 21. VIII. 29 Lieber verehrter Herr Doktor! 1 Erst heute, an einem ausgesprochen herbstlichen Tage, finde ich in der Ökonomie meines Sommerdienstes die Ruhe, Ihren großen Brief vom 5. 2 wenigstens vorläufig zu beantworten. Ich hoffe, daß ich bald – sobald Sie wünschen – mit Ihnen über diese Dinge sprechen kann. Wir hatten im Frühjahr keine Gelegenheit, die Angelegenheit Vr.–H. mündlich zu erörtern. Inzwischen habe ich, ohne für Vr. Partei zu ergreifen, Gelegenheit gehabt, die Zuverläßlichkeit jenes Händlers – Höckner 3 in Zwenckau [recte Zwenkau] bei Leipzig – zu erschüttern bei H. Der Mann war wie immer etwas zweifelhaft, und obzwar er den Eindruck eines lächelnden Eunuchen macht, scheint er doch nicht gerade kindlichen Gemütes zu sein. Mit Vr. habe ich mich nie sehr gut verstanden, aber ich habe ihn niemals vor H. herabgesetzt. Er dagegen hat meine Harmonie mit H. nicht immer gefördert. Davon abgesehen, hielt ich sein Benehmen im Falle Höckner für sehr ungeschickt, gerade wegen des latenten Mißtrauens Hs. gegen alle Welt. Es bliebe ungeschickt, H. nicht die Originalrechnungen Höckners einzusenden, wenn nun tatsächlich jener merkwürdige Pakt bestand, an den sich H. hinterher wieder erinnerte. Merkwürdigerweise hat mir {2} H. bei der Eröffnung seines Schuppenfalls auch erzählt, das Vr. mich bei Ihnen einer ähnlichen Handlung gegen H. gezeiht [recte gezeigt?] hätte – damals gebrauchte ich ein hartes Wort – und widerrief das nach einigen Tagen, durch Sie belehrt. Diese Sache erwähne ich aber nur zur pathologischer Hilfe, sie soll nicht mehr zwischen Vr. und mir erörtert werden. Was sie im allgemeinen über Ihre Erkenntnis Hs. schreiben, war mir sehr wertvoll zu wissen, obzwar ich nicht in allen Punkten Ihre Auffassung teilen kann. Vrs. Vergleich der Erstausgaben mit meinen Klavieren stimmt nicht, weil diese einen festen Preis haben und aus anderen Gründen. Vrs. Rente – wohl 500 M. – war es vielleicht auch nicht oder doch nicht allein, was jene angebliche oder tatsächliche Entdeckung willkommen machte. Der Freund war H. unbequem geworden. Kleinlich war es deshalb, ihn [Vrieslander] für Logis und Rente – die Vr. wohl aus früherer Zeit sich verdient hatte – in Wien wochenlang Frondienst machen zu lassen, was Vr. auch – ein offenes Wort zu Ihnen: – taglöhnerhaft mit Zettelstößen erledigte, die sich später oft als unbrauchbar, meist als flüchtig und falsch erwiesen, aber doch meine bedachte und äußerlich viel begrenztere Arbeit diskreditierten[.] (Inzwischen hat H. selbst {3} den Katalog z.T. überprüft und die Unterschiede erkannt.) So kindisch die Berufung auf die neidigen Nerven war, so unschön bleibt die Verdächtigung, die ja vor anderen Personen nicht revoziert worden ist wie bei Ihnen. Daß H. aber Sie mit all dem befaßte, erklärt sich mir nicht nur als gegenüber dem gemeinsamen Lehrer Vrs. und Hs., der durch Vr. zu Ihnen kam, auch aus seinem aufrichtigen Schüler-Verhältnis zu Ihnen, das über die Musik hinausreicht ins Menschliche. Und ich wünschte, daß Sie auch hierin weiter einen guten Einfluß übten auf diesen verwöhnten Menschen, dessen Eigenheiten oft nicht mehr kindisch sondern schon kindlich anmuten. Nebenbei gesagt: ich glaube, daß Frau van H., der Vr. auch oft auf die Nerven gieng, niemals Bedenken gehabt hat, ihm neben der Wohnung die ihm H. ja nicht entziehen wollte, auch die Rente – ohne Leistung, ohne weitere nämlich – zu belassen. Vielleicht spielt da auch ererbter Handelsgeist bei H. mit. Zu den Spaziergängen auf den Nerven gehört sicherlich auch Vrs. apodiktisches Dozieren, das trotz seiner hohen Belesenheit oft komisch wirkt. Ich empfand seine Fehler anderswo, in einer {4} gewissen Unaufrichtigkeit und in Schmeichelei gegen H. Nun die „Mitteilungen des Archivs“! 4 H. hat so gar kein Gefühl für die Lebensumstände anderer Menschen, auch seines intimeren Verkehrs, daß er gar nicht begreift, was Bezahlung geistiger Arbeit heißt. Da seine Zeit unendlich ist, so kann er die geistig aufgewendete Zeit der andern auch nicht schätzen, nur die physi[s]ch abgesessene oder etwa durch Zettel dokumentierte. Deshalb empfand er wohl die Zumutung, ohne Honorar an die Zeitschrift zu arbeiten, nicht als solche. Aber ich glaube, das hätte man ihm beibringen können. Nur muß ich bestreiten, daß er mit dieser Zumutung, mit dieser Gedankenlosigkeit egoistische Zwecke betrieb. Gegenüber den Kosten des altruistischen Archivs, ja der Zeitschrift in ihrer Herstellung selbst, hätten normale Honorare für ihre Beiträge keine Rolle gespielt. Aber die hätten wohl – wie bei bibliographischen Arbeiten auch – kaum genügt, um vor allem Ihre Zeit zu bezahlen. Proben aber hätten Sie vielleicht ebenso gerne niedergeschrieben wie Ihre kleinen Aufsätze im „Tonwillen“ oder im „Meisterwerk“, und damit wäre der Zweck des Archivs gut illustriert worden. Die Redaktion allerdings hätten Sie {5} kaum führen können, ohne Ihre Aufgaben zu vernachlässigen. 5 Vielleicht hätte das unter Ihrer Leitung Haas oder Hoboken selbst besorgen können. Eine Nummer herauszugeben wäre natürlich frivol und snobistisch. Mein Rat gieng auch immer auf die Garantie von 1–2 Jahren wenigstens. Die ideale Form der Zeitschrift, wo alle Revisionen die Sicherheit der Ihrigen erreichten, war nicht zu verbürgen, ohne daß Sie alles geprüft und mühsam ergänzt hätten. Aber die Illustration des Archivs durch Ihre Schüler und ein paar andere helle Köpfe wäre vielleicht zu erreichen gewesen, bis zur Übernahme der Zeitschrift durch einen Verleger (Strache, Filser), wenn H. Haas und mir – der nur gerufen kam – überlassen hätte, auch bei den natürlich begrenzten Mitteln und Opfern Hs. Daß Vrs. Beitrag als Muster angeboten und von H. ohne Obligo angenommen wurde, ist mir wahrscheinlich. Deshalb scheint mir auch Vrs. Forderung ungerecht. Wenn H. die Prozente für die Rente als Vorwand nahm, so nimmt Vr. jetzt das Honorar in kühner Höhe für eine Abfertigung in Anspruch, worüber Drille lachen können. Natürlich bliebe H. nichts Würdiges übrig, als zu zahlen. {6} Daß er Vr. lästig empfindet und ihn doch – wie er mir sagte – nicht ganz aufs Trockene stehen will, hängt vielleicht mit der Vergangenheit zusammen. Von der habe ich – ohne jemals zu fragen – genug erfahren (einschließlich der Ordens-Affaire), um mir ein Bild zu machen, das aber gar keine politische Färbung hat. Warum H. in München in Haft war, weiß ich nicht, weil ich nie gefragt habe. Die Affaire mit der Freundin und schlechten Kumpanen dürfte dabei mitgespielt haben. Ich halte das für Jungenstreiche, die bei Siebenmonatkinder[n] (der Typus!) später kommen mögen. Deshalb gebe auch ich noch nicht alle Hoffnung auf, H. trotz seiner Fehler (Launen, Taktmangel etc.) zum Besseren zu bekehren, nämlich sich seiner selbst gestellten schönen Aufgabe dauernd würdig zu erweisen. Deshalb bitte ich Sie, die Geduld nicht ganz zu verlieren, und ihm auch gegenüber Ihren anderen Schülern zugute zu halten, daß er seine Mittel auch für die praktische Ausnützung Ihrer Ideen verwendet hat, mit geringerer Eitelkeit als man bei solchen Treibhausnaturen erwarten durfte. © Transcription William Drabkin, 2023 |
⇧ PROF. OTTO ERICH DEUTSCH VIENNA II Böcklinstraße 26 ⇧ Seewalchen, August 21, 1929 Dear revered Dr. [Schenker], 1 Only today, on an incomparable autumnal day, do I find the tranquility in the management of my summer duties to reply, at least provisionally, to your long letter of the 5th. 2 I hope that I may soon – as soon as you wish – be able to speak with you about these things. Earlier in the year we had no opportunity to discuss the Vrieslander‒Hoboken affair in person. In the meantime I have had the opportunity – without taking Vrieslander’s side – to unsettle the trustworthiness of that dealer – Höckner 3 in Zwenkau, near Leipzig – for Hoboken. The man was, as ever, somewhat dubious; and, although he gives the impression of a smiling eunuch, he seems not to have a nature that is exactly childlike. I have never gotten along very well with Vrieslander, but I have never disparaged him in front of Hoboken. He, on the other hand, has not always promoted my good relationship with Hoboken. Quite apart from that, I regarded his behavior in the Höckner matter as very inept, precisely on account of Hoboken’s underlying distrust of everything in the world. It would remain inept not to send Hoboken Höckner’s original invoice, if indeed there was that remarkable agreement which Hoboken again recalls in hindsight. Remarkably, {2} Hoboken also told me, in the revelation of his case of [?dandruff], that Vrieslander had shown me, at your place, a similar business deal against Hoboken – at the time I used a severe word – and after a few days, informed by you, I disputed that. I mention this matter only because of the pathological assistance it provides; it should never again be discussed between Vrieslander and me. What you write in general about your understanding of Hoboken has been very valuable for me, although I cannot share your viewpoint in every detail. Vrieslander’s comparison of first editions with my pianos is incorrect, as the latter have a fixed price – and for other reasons. It was perhaps not, or at least not entirely, Vrieslander’s annuity – probably 500 marks – that made that alleged or actual discovery welcome. The friend had become uncomfortable for Hoboken. It was thus petty of him to have made him [Vrieslander] undertake compulsory labor for weeks in Vienna, in return for lodgings and remuneration – which Vrieslander surely deserved from a previous time; and also – I say this candidly – he discharged this like a day laborer with piles of [library catalog] cards, which often proved to be unusable, mainly done in haste and incorrectly, though they discredited my carefully considered and apparently much more limited work. (In the meantime, Hoboken himself {3} checked the catalog, in part, and recognized the differences.) So childish was his appeal to his envious nerves, so unattractive remains this suspicion, which has indeed not been revoked in front of other persons as it was in front of you. That Hoboken has concerned you with all this is something I can understand not only because you are the teacher-in-common of Vrieslander and Hoboken (who came to you via Vrieslander), but also because of his proper pupil‒teacher relationship with you, which goes beyond the musical into the human realm. And I would wish that in this respect you would continue to exercise a good influence on this spoiled person, whose idiosyncrasies often seem no longer childish but already infantile. Noted in passing: I believe Mrs. van Hoboken, to whom Vrieslander was often an annoyance, never had reservations about letting him have the annuity – in addition to the apartment, which Hoboken would indeed not have taken away from him – without doing something for it, that is without doing something extra. Perhaps Hoboken’s inherited spirit of enterprise also plays a role there. The annoyance surely includes Vrieslander’s irrefutable pontificating, which often has a comic effect in spite of his high level of erudition. I found his shortcomings elsewhere, in a certain {4} insincerity, and in flattery towards Hoboken. Now for the “Communications of the Archive”! 4 Hoboken has so little feeling for the living conditions of other people, even those in his intimate circle, that he cannot at all understand what payment for intellectual work means. As his time is unlimited, he cannot appreciate the time taken by others on intellectual pursuit, only that which can be measured physically or documented by [library catalog] cards. For this reason he did not regard working for the journal without payment an unreasonable demand. But I believe that one could have persuaded him otherwise. I must only contest the notion that he pursued egoistic objectives with this imposition, with this thoughtlessness. In relation to the costs of the altruistic Archive, indeed of the very establishment of the journal, normal fees for contributions to it would have played no role. But these would surely – as also with bibliographical works – hardly have sufficed to pay above all for your time. But you would probably have been just as willing to write down studies, like your short essays in Der Tonwille or Meisterwerk , and thus the purpose of the Archive would have been well illustrated. At any rate, you could have {5} hardly taken on the editorship without neglecting your own obligations. 5 Perhaps Haas, or Hoboken himself, could have done this, under your supervision. To bring out a single issue would, of course, be frivolous and snobbish. My suggestion always applied to a guarantee of at least one to two years. The ideal form of the journal, whereby all revisions reached the dependability of your own, could not be guaranteed without your having laboriously checked and amplified everything. But demonstrating the significance of the Archive by your pupils and a few other bright minds could have probably been achieved, until the journal was taken on by a publisher (Strache, or Filser), if Hoboken had left it to Haas and me – who only happened to come along – even in consideration of Hoboken’s naturally limited means and sacrifices. It is probable that Vrieslander’s essay will be offered as a model, and accepted by Hoboken without obligation. For this reason, even Vrieslander’s demand seems to me unjustifiable. If Hoboken took the percentage as a pretext for the annuity, then Vrielander is regarding the remuneration of such magnitude as a payment that baboons can laugh over. Of course Hoboken could then do nothing dignified except to pay. {6} That he finds Vrieslander a burden and yet – as he told me – does not want to leave him completely empty-handed, has something to do with past history. Without ever having asked, I have heard enough about this (including the affair over the Order of Merit) to form a picture for myself, which has however no political shading at all. I do not know why Hoboken was put in jail in Munich, as I have never asked. The affair with the girlfriend and bad companions may have played a role in it. I regard these as boyish pranks, which may also develop late in children who have been born prematurely (the stock character!). For this reason, I am also not giving up all hope that Hoboken, in spite of his shortcomings (his moods, lack of tact, etc.) may take a turn for the better, namely by proving himself to be continually worthy of the beautiful task he has set himself. For this reason, I ask you not to lose patience entirely, and to give him credit even for his practical utilization of your ideas also with respect to your other pupils, and with less vanity than might otherwise be expected of such hothouse characters. © Translation William Drabkin, 2023 |
⇧ PROF. OTTO ERICH DEUTSCH WIEN II. Böcklinstraße 26 ⇧ Seewalchen, 21. VIII. 29 Lieber verehrter Herr Doktor! 1 Erst heute, an einem ausgesprochen herbstlichen Tage, finde ich in der Ökonomie meines Sommerdienstes die Ruhe, Ihren großen Brief vom 5. 2 wenigstens vorläufig zu beantworten. Ich hoffe, daß ich bald – sobald Sie wünschen – mit Ihnen über diese Dinge sprechen kann. Wir hatten im Frühjahr keine Gelegenheit, die Angelegenheit Vr.–H. mündlich zu erörtern. Inzwischen habe ich, ohne für Vr. Partei zu ergreifen, Gelegenheit gehabt, die Zuverläßlichkeit jenes Händlers – Höckner 3 in Zwenckau [recte Zwenkau] bei Leipzig – zu erschüttern bei H. Der Mann war wie immer etwas zweifelhaft, und obzwar er den Eindruck eines lächelnden Eunuchen macht, scheint er doch nicht gerade kindlichen Gemütes zu sein. Mit Vr. habe ich mich nie sehr gut verstanden, aber ich habe ihn niemals vor H. herabgesetzt. Er dagegen hat meine Harmonie mit H. nicht immer gefördert. Davon abgesehen, hielt ich sein Benehmen im Falle Höckner für sehr ungeschickt, gerade wegen des latenten Mißtrauens Hs. gegen alle Welt. Es bliebe ungeschickt, H. nicht die Originalrechnungen Höckners einzusenden, wenn nun tatsächlich jener merkwürdige Pakt bestand, an den sich H. hinterher wieder erinnerte. Merkwürdigerweise hat mir {2} H. bei der Eröffnung seines Schuppenfalls auch erzählt, das Vr. mich bei Ihnen einer ähnlichen Handlung gegen H. gezeiht [recte gezeigt?] hätte – damals gebrauchte ich ein hartes Wort – und widerrief das nach einigen Tagen, durch Sie belehrt. Diese Sache erwähne ich aber nur zur pathologischer Hilfe, sie soll nicht mehr zwischen Vr. und mir erörtert werden. Was sie im allgemeinen über Ihre Erkenntnis Hs. schreiben, war mir sehr wertvoll zu wissen, obzwar ich nicht in allen Punkten Ihre Auffassung teilen kann. Vrs. Vergleich der Erstausgaben mit meinen Klavieren stimmt nicht, weil diese einen festen Preis haben und aus anderen Gründen. Vrs. Rente – wohl 500 M. – war es vielleicht auch nicht oder doch nicht allein, was jene angebliche oder tatsächliche Entdeckung willkommen machte. Der Freund war H. unbequem geworden. Kleinlich war es deshalb, ihn [Vrieslander] für Logis und Rente – die Vr. wohl aus früherer Zeit sich verdient hatte – in Wien wochenlang Frondienst machen zu lassen, was Vr. auch – ein offenes Wort zu Ihnen: – taglöhnerhaft mit Zettelstößen erledigte, die sich später oft als unbrauchbar, meist als flüchtig und falsch erwiesen, aber doch meine bedachte und äußerlich viel begrenztere Arbeit diskreditierten[.] (Inzwischen hat H. selbst {3} den Katalog z.T. überprüft und die Unterschiede erkannt.) So kindisch die Berufung auf die neidigen Nerven war, so unschön bleibt die Verdächtigung, die ja vor anderen Personen nicht revoziert worden ist wie bei Ihnen. Daß H. aber Sie mit all dem befaßte, erklärt sich mir nicht nur als gegenüber dem gemeinsamen Lehrer Vrs. und Hs., der durch Vr. zu Ihnen kam, auch aus seinem aufrichtigen Schüler-Verhältnis zu Ihnen, das über die Musik hinausreicht ins Menschliche. Und ich wünschte, daß Sie auch hierin weiter einen guten Einfluß übten auf diesen verwöhnten Menschen, dessen Eigenheiten oft nicht mehr kindisch sondern schon kindlich anmuten. Nebenbei gesagt: ich glaube, daß Frau van H., der Vr. auch oft auf die Nerven gieng, niemals Bedenken gehabt hat, ihm neben der Wohnung die ihm H. ja nicht entziehen wollte, auch die Rente – ohne Leistung, ohne weitere nämlich – zu belassen. Vielleicht spielt da auch ererbter Handelsgeist bei H. mit. Zu den Spaziergängen auf den Nerven gehört sicherlich auch Vrs. apodiktisches Dozieren, das trotz seiner hohen Belesenheit oft komisch wirkt. Ich empfand seine Fehler anderswo, in einer {4} gewissen Unaufrichtigkeit und in Schmeichelei gegen H. Nun die „Mitteilungen des Archivs“! 4 H. hat so gar kein Gefühl für die Lebensumstände anderer Menschen, auch seines intimeren Verkehrs, daß er gar nicht begreift, was Bezahlung geistiger Arbeit heißt. Da seine Zeit unendlich ist, so kann er die geistig aufgewendete Zeit der andern auch nicht schätzen, nur die physi[s]ch abgesessene oder etwa durch Zettel dokumentierte. Deshalb empfand er wohl die Zumutung, ohne Honorar an die Zeitschrift zu arbeiten, nicht als solche. Aber ich glaube, das hätte man ihm beibringen können. Nur muß ich bestreiten, daß er mit dieser Zumutung, mit dieser Gedankenlosigkeit egoistische Zwecke betrieb. Gegenüber den Kosten des altruistischen Archivs, ja der Zeitschrift in ihrer Herstellung selbst, hätten normale Honorare für ihre Beiträge keine Rolle gespielt. Aber die hätten wohl – wie bei bibliographischen Arbeiten auch – kaum genügt, um vor allem Ihre Zeit zu bezahlen. Proben aber hätten Sie vielleicht ebenso gerne niedergeschrieben wie Ihre kleinen Aufsätze im „Tonwillen“ oder im „Meisterwerk“, und damit wäre der Zweck des Archivs gut illustriert worden. Die Redaktion allerdings hätten Sie {5} kaum führen können, ohne Ihre Aufgaben zu vernachlässigen. 5 Vielleicht hätte das unter Ihrer Leitung Haas oder Hoboken selbst besorgen können. Eine Nummer herauszugeben wäre natürlich frivol und snobistisch. Mein Rat gieng auch immer auf die Garantie von 1–2 Jahren wenigstens. Die ideale Form der Zeitschrift, wo alle Revisionen die Sicherheit der Ihrigen erreichten, war nicht zu verbürgen, ohne daß Sie alles geprüft und mühsam ergänzt hätten. Aber die Illustration des Archivs durch Ihre Schüler und ein paar andere helle Köpfe wäre vielleicht zu erreichen gewesen, bis zur Übernahme der Zeitschrift durch einen Verleger (Strache, Filser), wenn H. Haas und mir – der nur gerufen kam – überlassen hätte, auch bei den natürlich begrenzten Mitteln und Opfern Hs. Daß Vrs. Beitrag als Muster angeboten und von H. ohne Obligo angenommen wurde, ist mir wahrscheinlich. Deshalb scheint mir auch Vrs. Forderung ungerecht. Wenn H. die Prozente für die Rente als Vorwand nahm, so nimmt Vr. jetzt das Honorar in kühner Höhe für eine Abfertigung in Anspruch, worüber Drille lachen können. Natürlich bliebe H. nichts Würdiges übrig, als zu zahlen. {6} Daß er Vr. lästig empfindet und ihn doch – wie er mir sagte – nicht ganz aufs Trockene stehen will, hängt vielleicht mit der Vergangenheit zusammen. Von der habe ich – ohne jemals zu fragen – genug erfahren (einschließlich der Ordens-Affaire), um mir ein Bild zu machen, das aber gar keine politische Färbung hat. Warum H. in München in Haft war, weiß ich nicht, weil ich nie gefragt habe. Die Affaire mit der Freundin und schlechten Kumpanen dürfte dabei mitgespielt haben. Ich halte das für Jungenstreiche, die bei Siebenmonatkinder[n] (der Typus!) später kommen mögen. Deshalb gebe auch ich noch nicht alle Hoffnung auf, H. trotz seiner Fehler (Launen, Taktmangel etc.) zum Besseren zu bekehren, nämlich sich seiner selbst gestellten schönen Aufgabe dauernd würdig zu erweisen. Deshalb bitte ich Sie, die Geduld nicht ganz zu verlieren, und ihm auch gegenüber Ihren anderen Schülern zugute zu halten, daß er seine Mittel auch für die praktische Ausnützung Ihrer Ideen verwendet hat, mit geringerer Eitelkeit als man bei solchen Treibhausnaturen erwarten durfte. © Transcription William Drabkin, 2023 |
⇧ PROF. OTTO ERICH DEUTSCH VIENNA II Böcklinstraße 26 ⇧ Seewalchen, August 21, 1929 Dear revered Dr. [Schenker], 1 Only today, on an incomparable autumnal day, do I find the tranquility in the management of my summer duties to reply, at least provisionally, to your long letter of the 5th. 2 I hope that I may soon – as soon as you wish – be able to speak with you about these things. Earlier in the year we had no opportunity to discuss the Vrieslander‒Hoboken affair in person. In the meantime I have had the opportunity – without taking Vrieslander’s side – to unsettle the trustworthiness of that dealer – Höckner 3 in Zwenkau, near Leipzig – for Hoboken. The man was, as ever, somewhat dubious; and, although he gives the impression of a smiling eunuch, he seems not to have a nature that is exactly childlike. I have never gotten along very well with Vrieslander, but I have never disparaged him in front of Hoboken. He, on the other hand, has not always promoted my good relationship with Hoboken. Quite apart from that, I regarded his behavior in the Höckner matter as very inept, precisely on account of Hoboken’s underlying distrust of everything in the world. It would remain inept not to send Hoboken Höckner’s original invoice, if indeed there was that remarkable agreement which Hoboken again recalls in hindsight. Remarkably, {2} Hoboken also told me, in the revelation of his case of [?dandruff], that Vrieslander had shown me, at your place, a similar business deal against Hoboken – at the time I used a severe word – and after a few days, informed by you, I disputed that. I mention this matter only because of the pathological assistance it provides; it should never again be discussed between Vrieslander and me. What you write in general about your understanding of Hoboken has been very valuable for me, although I cannot share your viewpoint in every detail. Vrieslander’s comparison of first editions with my pianos is incorrect, as the latter have a fixed price – and for other reasons. It was perhaps not, or at least not entirely, Vrieslander’s annuity – probably 500 marks – that made that alleged or actual discovery welcome. The friend had become uncomfortable for Hoboken. It was thus petty of him to have made him [Vrieslander] undertake compulsory labor for weeks in Vienna, in return for lodgings and remuneration – which Vrieslander surely deserved from a previous time; and also – I say this candidly – he discharged this like a day laborer with piles of [library catalog] cards, which often proved to be unusable, mainly done in haste and incorrectly, though they discredited my carefully considered and apparently much more limited work. (In the meantime, Hoboken himself {3} checked the catalog, in part, and recognized the differences.) So childish was his appeal to his envious nerves, so unattractive remains this suspicion, which has indeed not been revoked in front of other persons as it was in front of you. That Hoboken has concerned you with all this is something I can understand not only because you are the teacher-in-common of Vrieslander and Hoboken (who came to you via Vrieslander), but also because of his proper pupil‒teacher relationship with you, which goes beyond the musical into the human realm. And I would wish that in this respect you would continue to exercise a good influence on this spoiled person, whose idiosyncrasies often seem no longer childish but already infantile. Noted in passing: I believe Mrs. van Hoboken, to whom Vrieslander was often an annoyance, never had reservations about letting him have the annuity – in addition to the apartment, which Hoboken would indeed not have taken away from him – without doing something for it, that is without doing something extra. Perhaps Hoboken’s inherited spirit of enterprise also plays a role there. The annoyance surely includes Vrieslander’s irrefutable pontificating, which often has a comic effect in spite of his high level of erudition. I found his shortcomings elsewhere, in a certain {4} insincerity, and in flattery towards Hoboken. Now for the “Communications of the Archive”! 4 Hoboken has so little feeling for the living conditions of other people, even those in his intimate circle, that he cannot at all understand what payment for intellectual work means. As his time is unlimited, he cannot appreciate the time taken by others on intellectual pursuit, only that which can be measured physically or documented by [library catalog] cards. For this reason he did not regard working for the journal without payment an unreasonable demand. But I believe that one could have persuaded him otherwise. I must only contest the notion that he pursued egoistic objectives with this imposition, with this thoughtlessness. In relation to the costs of the altruistic Archive, indeed of the very establishment of the journal, normal fees for contributions to it would have played no role. But these would surely – as also with bibliographical works – hardly have sufficed to pay above all for your time. But you would probably have been just as willing to write down studies, like your short essays in Der Tonwille or Meisterwerk , and thus the purpose of the Archive would have been well illustrated. At any rate, you could have {5} hardly taken on the editorship without neglecting your own obligations. 5 Perhaps Haas, or Hoboken himself, could have done this, under your supervision. To bring out a single issue would, of course, be frivolous and snobbish. My suggestion always applied to a guarantee of at least one to two years. The ideal form of the journal, whereby all revisions reached the dependability of your own, could not be guaranteed without your having laboriously checked and amplified everything. But demonstrating the significance of the Archive by your pupils and a few other bright minds could have probably been achieved, until the journal was taken on by a publisher (Strache, or Filser), if Hoboken had left it to Haas and me – who only happened to come along – even in consideration of Hoboken’s naturally limited means and sacrifices. It is probable that Vrieslander’s essay will be offered as a model, and accepted by Hoboken without obligation. For this reason, even Vrieslander’s demand seems to me unjustifiable. If Hoboken took the percentage as a pretext for the annuity, then Vrielander is regarding the remuneration of such magnitude as a payment that baboons can laugh over. Of course Hoboken could then do nothing dignified except to pay. {6} That he finds Vrieslander a burden and yet – as he told me – does not want to leave him completely empty-handed, has something to do with past history. Without ever having asked, I have heard enough about this (including the affair over the Order of Merit) to form a picture for myself, which has however no political shading at all. I do not know why Hoboken was put in jail in Munich, as I have never asked. The affair with the girlfriend and bad companions may have played a role in it. I regard these as boyish pranks, which may also develop late in children who have been born prematurely (the stock character!). For this reason, I am also not giving up all hope that Hoboken, in spite of his shortcomings (his moods, lack of tact, etc.) may take a turn for the better, namely by proving himself to be continually worthy of the beautiful task he has set himself. For this reason, I ask you not to lose patience entirely, and to give him credit even for his practical utilization of your ideas also with respect to your other pupils, and with less vanity than might otherwise be expected of such hothouse characters. © Translation William Drabkin, 2023 |
Footnotes1 Receipt of this letter is recorded in Schenker’s diary (“August 24, 1929): Von Deutsch (Br. rec. 8 [recte: 6] Seiten): der erste Eindruck war für Lie-Liechen der, daß er für v. Hoboken gegen Vrieslander Partei ergreife, bei näherer Betrachtung ist er meiner Ansicht, vor allem darin, daß man H. Geduld haben müsse u. solle. Auf dieses Resultat (?) hin, sind alle anderen Beobachtungen abgestimmt. Daß er sich mit Vrieslander niemals gut verstanden hat, liegt an Beiden. Vr. zieht nach der künstlerichen Seite hin, D. nach der bibliophilen, beide streben mit unzulänglichen Mitteln, Vr. sogar mit grotesken.” (“From Deutsch (registered letter, eight [recte: six] pages): Lie-Liechen’s first impression was that he was siding with Hoboken against Vrieslander; upon closer examination, he agrees with me, above all in the view that one must and should have patience with Hoboken. On the basis of this result, all other observations fall into place. That he never got on well with Vrieslander is the fault of both men. Vrieslander pulls towards the artistic side, Deutsch towards that of the bibliophile; both pursue their aims with insufficient means, Vrieslander even with grotesque ones”). 2 Writing and sending of this letter is recorded in Schenker’s diary on August 4 and 5: “An Deutsch ein Schreiben begonnen; – Folge der Einteilung: Rente, Mitteilungen des Archivs usw.” (“To Deutsch, a letter begun; – outline of the contents: annuity, ‘Communications’ of the Archive, etc.”); “Brief an Deutsch vollendet, 12 Seiten! – recomm. aufgegeben” (“letter to Deutsch completed, twelve pages! – sent by registered mail”). 3 Walter Höckner, music publisher and antiquarian dealer based in Zwenkau, near Leipzig. 4 The Mitteilungen (“Communications”) of the Photogram Archive, planned soon after its inauguration but never put into practice, which were to contain reports on its content and studies of musical manuscripts. 5 On June 6, at a meeting with Hoboken, Haas and Kromer, Schenker put forward his arguments about why he could not take on the editorship of the Mitteilungen, citing the amount of time it would divert from his other work. See the diary entry for that day. |