Gmain 29. XII. 20.

Lieber Meister!

Herzlichsten 1 Dank für Ihren langen Brief, 2 der mir die schönste Weihnachtsfreude war. Dank auch für Ihr gütiges Urteil über meine Bücher, die ich in dem Sinne geschrieben habe, wie Sie es jetzt sagen. Ich wollte nichts anderes, als in einer auch weiteren Kreisen verständlichen Form und Art dem Genie dienen. Selbstverständlich können derartige „Werkbesprechungen“ nie Anspruch auf den Charakter einer Analyse oder so haben. Sie sollen es ja auch garnicht sein, sondern nur beiläufige Hinweise auf diesen oder jenen Charakterzug der betreffenden Werke. — Sie waren so freundlich nach meiner neuen Arbeit zu fragen! Ich sollte für einen Münchener Verlag, der eine Reihe von Büchern über Nietzsche im Anschluss an die grosse Gesamtausgabe der Werke Nietzsches herauszugeben beabsichtigte, ein Buch über Nietzsche und die Musik schreiben. Zuerst sträubte ich mich dagegen; später gewann diese Arbeit grossen Reiz für mich, da das Thema sehr eng mit Weltanschauungsfragen zusammenhängt. Vielleicht interessiert es Sie, die Disposition meiner Arbeit kennen zu lernen. Ich will sie hier in kurzen Zügen geben:

{2} Die Offenbarung der Musik
Eine Apothese Friedrich Nietzsches 3

Vorwort: ausgehend von Stendhals Wort, dass die Demokratisierung der Völker den Untergang der schönen Künste bedeute.

I. Kap. Stadien der Erkenntnis
Verhältnis der Philosophen zur Musik von Sokrates bis Nietzsche. Letzter Stadium: H. Schenker

II. Kap. Der dionÿsische Enthusiast
Das Erlebnis der Musik

III. Kap. Der Künstler und die Welt
Das schöpferische Genie ist die höchste Instanz der Menschheit. Das Genie ist das einzige Meter der Kunst.

IV. Kap. Die alten Ideale
Entwicklung der Musik von Palestrina bis Beethoven.

V. Kap. Der Zaubergarten
Die musikalische Romantik. Die alten Ideale werden verwischt.

VI. Kap. Drama eroico
Wagner. Versuch einer Darstellung des Verhältnis Wagner-Nietzsche.
Wagner als Verfallssÿmptom

VII. Kap. Dies irae
Die Musik nach Wagner. Der vollkommene Verfall. Nicht bloss Dekadenz sondern Fäulnis.

{3} VIII. Kap. Der grosse Stil
Versuch einer Darstellung dessen, was man unter „grossem Stil“ versteht.

IX. Kap. Idÿllikon oder Scherz und tiefere Bedeutung
Der Fall Bizet; gleichzeitig über das Wesen der Oper überhaupt.

X. Kap. Davids Harfe
Nietzsche und Peter Gast. 4 (Eine Angelegenheit die notgedrungen behandelt werden muss.)

XI. Kap. Ariadne
Dürfen wir hoffen, dass unsere Sehnsucht nach einer neuen reinen grossen Kunst Erfüllung findet? — Die Zukünft der Musik

Ich zitiere dabei Nietzsche, ohne ihm aber immer zu folgen und Recht zu geben. Das ganze Buch ist eigentlich nichts anderes als eine Skizze. Ich fühle beim Niederschreiben, wie sich viele Gedanken noch ganz anderes formen und weiterführen lassen würden. Dies behalte ich mir für ein späteres Werk vor, das einen geschlosseneren, selbständigeren Charakter zeigen soll, dank der Erkenntnise, die mir durch Sie zu teil geworden sind.

{4} Ich bin auf das Erscheinen Ihrer neuen Arbeiten äusserst begierig; hoffentlich finde ich dann gleich eine geeignete Gelegenheit, um gebührend darauf hinweisen zu können. Vor allem freue ich mich auf die Interpretation der „Urlinie“ in dem 1. Band der Kl. Bibliothek.

Nach Berlin komme ich garnicht; nicht einmal nach München, um bei Vrieslander den „Generalbass“ zu Ende bringen zu können. Ein Orchester habe ich schon seit langem nicht mehr gehört; d.h. doch: am 28 XI. war ich in Dessau zur Uraufführung der Oper „Magda Maria“ von Oscar von Chelius, 5 zu der mich der Komponist, der frühere Adjutant des deutschen Kaisers, eingeladen hatte. Ich hätte allerdings lieber den „Fidelio“ oder den „Don Juan“ gehört. — —


Nun nochmals: ein gesundes, schaffens-
frohes und erfolgreiches neues Jahr
Ihnen und Ihrer verehrten Frau Gemahlin
Ihr stets treuergebener und dankbarer
[signed:] Walter Dahms
[signed:] u. Frau

© Transcription John Koslovsky, 2010


Großgmain December 29, 1920

Dear Master,

Many 1 thanks for your long letter, 2 which was for me the greatest joy at Christmas. Thank you as well for your gracious assessment of my books, which I wrote in the spirit of what you now say. I wanted nothing other than to serve genius in a form and manner intelligible also to wider circles. Needless to say, such "discussions of works" can never claim to have the character of an analysis or suchlike. They should not be this way, but should only give casual advice on this or that feature of the work in question. – You were so very kind to ask about my latest work! I should write a book on Nietzsche and music for a publishing house in Munich that aims to publish a series of books on Nietzsche in connection with the large complete edition of Nietzsche. At first I resisted such a thing; then later this work gained a great appeal to me, since the theme deals so closely with questions of world perspective. Perhaps it would interest you to get a sense of the arrangement of my work. I will briefly offer one here:

{2} The Ephipany of Music
An Apotheosis of Friedrich Nietzsche
3

Preface:
Point of departure Stendhal's statement that the democratization of people signifies the demise of the fine arts.

Chapter I: Stages of Knowledge
Connection of the philosopher to music, from Socrates to Nietzsche. Final stage: Heinrich Schenker

Chapter II: The Dionysian Enthusiast
The experience of music

Chapter III: The Artist and the World
The creative genius is the highest instance of humanity. The genius is the sole meaure of art.

Chapter IV: The Old Ideals
Development of music from Palestrina to Beethoven.

Chapter V: The Magic Garden
Musical romanticism. The old ideals are obliterated.

Chapter VI: Drama Eroico
Wagner. Attempt at a representation of the relationship between Wagner and Nietzsche.
Wagner as a symptom of decline.

Chapter VII: Dies Irae
Music after Wagner. The complete decline. Not merely decadence but rottenness.

{3}Chapter VIII: The Great Style
Attempt at a representation of what one understands as "great style."

Chapter IX: Idyllic or Banter and Deep Meaning
The case of Bizet; at the same time a discussion of the essence of opera in general.

Chapter X: David’s Harp
Nietzsche and Peter Gast. 4 (A matter perforce must be handled).

Chapter XI: Ariadne
May we hope that our yearning for a new, pure, great art will find fulfillment? – The future of music.

In the course of the book I cite Nietzsche, without, however, always following him or proving him right. The whole book is actually nothing more than a sketch. As I write it down I feel how many thoughts would still allow themselves to form in different ways and perpetuate themselves. These I will reserve for a later work, which is to reveal a more complete and independent character, thanks to the insights that have come to me in part through you.

{4} I am extremely eager for the publication of your new work; hopefully I will then find an appropriate opportunity straight away to be able to draw attention to it befittingly. Above all I am delighted at the interpretation of “Urlinie” in the first volume of the Little Library .

I will definitely not be coming to Berlin, and not even to Munich so I can complete the "thoroughbass" with Vrieslander. I have not heard an orchestra for a long time now; however, on November 28 I was in Dessau for the premiere of the opera Magda Maria by Oscar von Chelius, 5 to which the composer, the former adjutant of the German emperor, had invited me. Certainly I would have preferred to listen to Fidelio or Don Giovanni . – –


Now once again: a healthy, joyfully
productive and successful New Year
to you and your revered wife.
Your ever-true devotee and thankful,
[signed:] Walter Dahms
[signed:] and wife

© Translation John Koslovsky, 2010


Gmain 29. XII. 20.

Lieber Meister!

Herzlichsten 1 Dank für Ihren langen Brief, 2 der mir die schönste Weihnachtsfreude war. Dank auch für Ihr gütiges Urteil über meine Bücher, die ich in dem Sinne geschrieben habe, wie Sie es jetzt sagen. Ich wollte nichts anderes, als in einer auch weiteren Kreisen verständlichen Form und Art dem Genie dienen. Selbstverständlich können derartige „Werkbesprechungen“ nie Anspruch auf den Charakter einer Analyse oder so haben. Sie sollen es ja auch garnicht sein, sondern nur beiläufige Hinweise auf diesen oder jenen Charakterzug der betreffenden Werke. — Sie waren so freundlich nach meiner neuen Arbeit zu fragen! Ich sollte für einen Münchener Verlag, der eine Reihe von Büchern über Nietzsche im Anschluss an die grosse Gesamtausgabe der Werke Nietzsches herauszugeben beabsichtigte, ein Buch über Nietzsche und die Musik schreiben. Zuerst sträubte ich mich dagegen; später gewann diese Arbeit grossen Reiz für mich, da das Thema sehr eng mit Weltanschauungsfragen zusammenhängt. Vielleicht interessiert es Sie, die Disposition meiner Arbeit kennen zu lernen. Ich will sie hier in kurzen Zügen geben:

{2} Die Offenbarung der Musik
Eine Apothese Friedrich Nietzsches 3

Vorwort: ausgehend von Stendhals Wort, dass die Demokratisierung der Völker den Untergang der schönen Künste bedeute.

I. Kap. Stadien der Erkenntnis
Verhältnis der Philosophen zur Musik von Sokrates bis Nietzsche. Letzter Stadium: H. Schenker

II. Kap. Der dionÿsische Enthusiast
Das Erlebnis der Musik

III. Kap. Der Künstler und die Welt
Das schöpferische Genie ist die höchste Instanz der Menschheit. Das Genie ist das einzige Meter der Kunst.

IV. Kap. Die alten Ideale
Entwicklung der Musik von Palestrina bis Beethoven.

V. Kap. Der Zaubergarten
Die musikalische Romantik. Die alten Ideale werden verwischt.

VI. Kap. Drama eroico
Wagner. Versuch einer Darstellung des Verhältnis Wagner-Nietzsche.
Wagner als Verfallssÿmptom

VII. Kap. Dies irae
Die Musik nach Wagner. Der vollkommene Verfall. Nicht bloss Dekadenz sondern Fäulnis.

{3} VIII. Kap. Der grosse Stil
Versuch einer Darstellung dessen, was man unter „grossem Stil“ versteht.

IX. Kap. Idÿllikon oder Scherz und tiefere Bedeutung
Der Fall Bizet; gleichzeitig über das Wesen der Oper überhaupt.

X. Kap. Davids Harfe
Nietzsche und Peter Gast. 4 (Eine Angelegenheit die notgedrungen behandelt werden muss.)

XI. Kap. Ariadne
Dürfen wir hoffen, dass unsere Sehnsucht nach einer neuen reinen grossen Kunst Erfüllung findet? — Die Zukünft der Musik

Ich zitiere dabei Nietzsche, ohne ihm aber immer zu folgen und Recht zu geben. Das ganze Buch ist eigentlich nichts anderes als eine Skizze. Ich fühle beim Niederschreiben, wie sich viele Gedanken noch ganz anderes formen und weiterführen lassen würden. Dies behalte ich mir für ein späteres Werk vor, das einen geschlosseneren, selbständigeren Charakter zeigen soll, dank der Erkenntnise, die mir durch Sie zu teil geworden sind.

{4} Ich bin auf das Erscheinen Ihrer neuen Arbeiten äusserst begierig; hoffentlich finde ich dann gleich eine geeignete Gelegenheit, um gebührend darauf hinweisen zu können. Vor allem freue ich mich auf die Interpretation der „Urlinie“ in dem 1. Band der Kl. Bibliothek.

Nach Berlin komme ich garnicht; nicht einmal nach München, um bei Vrieslander den „Generalbass“ zu Ende bringen zu können. Ein Orchester habe ich schon seit langem nicht mehr gehört; d.h. doch: am 28 XI. war ich in Dessau zur Uraufführung der Oper „Magda Maria“ von Oscar von Chelius, 5 zu der mich der Komponist, der frühere Adjutant des deutschen Kaisers, eingeladen hatte. Ich hätte allerdings lieber den „Fidelio“ oder den „Don Juan“ gehört. — —


Nun nochmals: ein gesundes, schaffens-
frohes und erfolgreiches neues Jahr
Ihnen und Ihrer verehrten Frau Gemahlin
Ihr stets treuergebener und dankbarer
[signed:] Walter Dahms
[signed:] u. Frau

© Transcription John Koslovsky, 2010


Großgmain December 29, 1920

Dear Master,

Many 1 thanks for your long letter, 2 which was for me the greatest joy at Christmas. Thank you as well for your gracious assessment of my books, which I wrote in the spirit of what you now say. I wanted nothing other than to serve genius in a form and manner intelligible also to wider circles. Needless to say, such "discussions of works" can never claim to have the character of an analysis or suchlike. They should not be this way, but should only give casual advice on this or that feature of the work in question. – You were so very kind to ask about my latest work! I should write a book on Nietzsche and music for a publishing house in Munich that aims to publish a series of books on Nietzsche in connection with the large complete edition of Nietzsche. At first I resisted such a thing; then later this work gained a great appeal to me, since the theme deals so closely with questions of world perspective. Perhaps it would interest you to get a sense of the arrangement of my work. I will briefly offer one here:

{2} The Ephipany of Music
An Apotheosis of Friedrich Nietzsche
3

Preface:
Point of departure Stendhal's statement that the democratization of people signifies the demise of the fine arts.

Chapter I: Stages of Knowledge
Connection of the philosopher to music, from Socrates to Nietzsche. Final stage: Heinrich Schenker

Chapter II: The Dionysian Enthusiast
The experience of music

Chapter III: The Artist and the World
The creative genius is the highest instance of humanity. The genius is the sole meaure of art.

Chapter IV: The Old Ideals
Development of music from Palestrina to Beethoven.

Chapter V: The Magic Garden
Musical romanticism. The old ideals are obliterated.

Chapter VI: Drama Eroico
Wagner. Attempt at a representation of the relationship between Wagner and Nietzsche.
Wagner as a symptom of decline.

Chapter VII: Dies Irae
Music after Wagner. The complete decline. Not merely decadence but rottenness.

{3}Chapter VIII: The Great Style
Attempt at a representation of what one understands as "great style."

Chapter IX: Idyllic or Banter and Deep Meaning
The case of Bizet; at the same time a discussion of the essence of opera in general.

Chapter X: David’s Harp
Nietzsche and Peter Gast. 4 (A matter perforce must be handled).

Chapter XI: Ariadne
May we hope that our yearning for a new, pure, great art will find fulfillment? – The future of music.

In the course of the book I cite Nietzsche, without, however, always following him or proving him right. The whole book is actually nothing more than a sketch. As I write it down I feel how many thoughts would still allow themselves to form in different ways and perpetuate themselves. These I will reserve for a later work, which is to reveal a more complete and independent character, thanks to the insights that have come to me in part through you.

{4} I am extremely eager for the publication of your new work; hopefully I will then find an appropriate opportunity straight away to be able to draw attention to it befittingly. Above all I am delighted at the interpretation of “Urlinie” in the first volume of the Little Library .

I will definitely not be coming to Berlin, and not even to Munich so I can complete the "thoroughbass" with Vrieslander. I have not heard an orchestra for a long time now; however, on November 28 I was in Dessau for the premiere of the opera Magda Maria by Oscar von Chelius, 5 to which the composer, the former adjutant of the German emperor, had invited me. Certainly I would have preferred to listen to Fidelio or Don Giovanni . – –


Now once again: a healthy, joyfully
productive and successful New Year
to you and your revered wife.
Your ever-true devotee and thankful,
[signed:] Walter Dahms
[signed:] and wife

© Translation John Koslovsky, 2010

Footnotes

1 Receipt of this letter is recorded in Schenker's diary at OJ 3/2, p. 2308, January 4, 1921: " Von Dahms (Br.): Plan des Buches Nietzsche; dankt für günstiges Urteil." ("From Dahms (letter): plan of the book Nietzsche; he sends thanks for the favorable judgement.").

2 This letter is not known to survive, but its writing is recorded in Schenker's diary at OJ 3/2, p. 2304, December 22, 1920: "An Dahms (Br.): Lebensbilder seien schließlich nicht eine Summe von Notenbildern, er daher im Recht, seine Bücher so zu halten." ("To Dahms (letter): pictures of life are not ultimately the sum of notational images, so he is right to write his books that way.")

3 Walter Dahms, Die Offenbarung der Musik: Eine Apotheose Friedrich Nietzsches (Munich: Musarion, 1922). A copy of this book was in Schenker's personal library at his death: Musik und Theater. Enthaltend die Bibliothek des Herrn Dr. Heinrich Schenker, Wien (Vienna: Heinrich Hinterberger [1936]).

4 Peter Gast, born Johan Heinrich Köselitz (1854-1918), a student of and assistant to Friedrich Nietzsche.

5 Oscar von Chelius (1859-1923), German composer and General. His opera Magda Maria was premiered in November of 1920 in Dessau, Germany.