Lieber, verehrter Meister! 1

Herzlichsten Dank für den freundlichen Brief 2 und die nachgesandte Karte. 3 Mit besonderer Freude erfüllte mich die Nachricht, daß II2 vollendet ist; ein Schritt weiter auf dem Wege, der zum sicheren Dinge führt. Der Dank der Welt dafür ist Ihnen so sicher, wie die großartige Bedeutung des Werkes immer Klarer werden wird. Alle tiefen Gedanken brauchen ihre Zeit.

Was Sie mir über Bruckner schrieben, hat mich sehr interessiert. Wie freue ich mich, diese Fragen alle mit Ihnen besprechen zu können. Denn nun dürfen wir ja wohl hoffen (ohne wie {2} bisher immer, genarrt zu werden) daß der Frieden vor der Tür steht. Czernin und Kühlmann werden die Angelegenheit schon in Ordnung bringen. Vielleicht bin ich im Frühjahr schon frei. Gesundheitlich halte ich gerade so durch, ohne zusammenzuklappen. Der Arzt hat zwar schwere Bedenken wegen meiner großen Arbeitspläne und rät mir zu einer halbjährigen langsonnen Gewöhnungskur. Aber das kann ich ja garnicht möglich machen.

Hier komme ich ja leider sehr wenig zum arbeiten. Abends am 6 bin ich erst zu Hause und habe dann 8 Stunden im Büro zugebracht und über das Wirtschafts- {3} leben in Litauen gearbeitet. Dann ist mein Gehirn Abends meist wie eine abgelaufene Feder. Meist muß ich noch als Referent ins Konzert oder in die Oper, sodaß ich eigentlich nur dann und wann einmal eine Stunde finde, um in ein Buch zu sehen. Das ganze Nerven Sÿstem ist durch diese entsetzlich lange Kriegszeit in Unordnung geraten. Manchmal fürchte ich mich ordentlich vor einer großen Arbeit, die alle Kräfte in Anspruch nimmt, namentlich wo ich so gänzlich und vollständig aus aller Musik heraus bin.

{4} Wenn Halm’s Artikel erscheint, geben Sie mir doch bitte die Zeitschrift an, damit ich mir diese Arbeit besorgen kann.

Indem ich Ihnen zum neuen Jahr den von uns allen ersehnten Frieden als Schönstes wünsche, daneben aber besonders Schaffenskraft und Freude, hoffe ich, Ihnen nun endlich bald die Hand drücken zu können.


Mit den herzlichsten Grüßen
Ihr dankbar-ergebener
[signed:] Walter Dahms

© Transcription John Koslovsky, 2012



Dear, revered Master, 1

Most cordial thanks for your kind letter 2 and the forwarded postcard. 3 I was especially filled with joy to hear that II/2 is completed; a step further along the path towards more certain things. The world's gratitude to you for it is secure, as the profound meaning of the work becomes ever clearer. All deep thoughts require their time.

What you wrote to me about Bruckner has interested me very much. How much I look forward to being able to discuss all these questions with you. Because now we may really hope (not like {2} up to now, being mocked) that we stand on the threshhold of peace. Czernin and Kühlmann will put everything right. Perhaps I will already be free in the springtime. In terms of my health I am just barely holding myself together, without collapsing. My doctor has strong reservations about my ambitious work plans and advises me to take a half year of habituation in the sun. But I cannot make that possible whatsoever.

Here unfortunately I am able to work very little. I do not arrive home in the evening until six o’clock after having spent eight hours at the office and having {3} worked on the economic life in Lithuania. In the evening my brain is like a fountain pen with no ink. For the most part I still have to work as a concert or opera critic, so I actually only find an hour every now and again to look at a book. My entire nervous system has been thrown into disarray by this dreadfully long war. Sometimes I feel completely afraid of taking on a large-scale work, which makes great demands on all one's energies, especially since I am entirely and altogether removed from all music.

{4} When Halm's article is published, please indicate the name of the journal to me so that I can obtain this work.

As I wish for you the longed-for peace in the new year as well as everything beautiful from all of us, and especially the energy to work and joy, I hope that soon I will finally be able to shake your hand.


With warmest greetings,
your thankful devotee,
[signed:] Walter Dahms

© Translation John Koslovsky, 2012



Lieber, verehrter Meister! 1

Herzlichsten Dank für den freundlichen Brief 2 und die nachgesandte Karte. 3 Mit besonderer Freude erfüllte mich die Nachricht, daß II2 vollendet ist; ein Schritt weiter auf dem Wege, der zum sicheren Dinge führt. Der Dank der Welt dafür ist Ihnen so sicher, wie die großartige Bedeutung des Werkes immer Klarer werden wird. Alle tiefen Gedanken brauchen ihre Zeit.

Was Sie mir über Bruckner schrieben, hat mich sehr interessiert. Wie freue ich mich, diese Fragen alle mit Ihnen besprechen zu können. Denn nun dürfen wir ja wohl hoffen (ohne wie {2} bisher immer, genarrt zu werden) daß der Frieden vor der Tür steht. Czernin und Kühlmann werden die Angelegenheit schon in Ordnung bringen. Vielleicht bin ich im Frühjahr schon frei. Gesundheitlich halte ich gerade so durch, ohne zusammenzuklappen. Der Arzt hat zwar schwere Bedenken wegen meiner großen Arbeitspläne und rät mir zu einer halbjährigen langsonnen Gewöhnungskur. Aber das kann ich ja garnicht möglich machen.

Hier komme ich ja leider sehr wenig zum arbeiten. Abends am 6 bin ich erst zu Hause und habe dann 8 Stunden im Büro zugebracht und über das Wirtschafts- {3} leben in Litauen gearbeitet. Dann ist mein Gehirn Abends meist wie eine abgelaufene Feder. Meist muß ich noch als Referent ins Konzert oder in die Oper, sodaß ich eigentlich nur dann und wann einmal eine Stunde finde, um in ein Buch zu sehen. Das ganze Nerven Sÿstem ist durch diese entsetzlich lange Kriegszeit in Unordnung geraten. Manchmal fürchte ich mich ordentlich vor einer großen Arbeit, die alle Kräfte in Anspruch nimmt, namentlich wo ich so gänzlich und vollständig aus aller Musik heraus bin.

{4} Wenn Halm’s Artikel erscheint, geben Sie mir doch bitte die Zeitschrift an, damit ich mir diese Arbeit besorgen kann.

Indem ich Ihnen zum neuen Jahr den von uns allen ersehnten Frieden als Schönstes wünsche, daneben aber besonders Schaffenskraft und Freude, hoffe ich, Ihnen nun endlich bald die Hand drücken zu können.


Mit den herzlichsten Grüßen
Ihr dankbar-ergebener
[signed:] Walter Dahms

© Transcription John Koslovsky, 2012



Dear, revered Master, 1

Most cordial thanks for your kind letter 2 and the forwarded postcard. 3 I was especially filled with joy to hear that II/2 is completed; a step further along the path towards more certain things. The world's gratitude to you for it is secure, as the profound meaning of the work becomes ever clearer. All deep thoughts require their time.

What you wrote to me about Bruckner has interested me very much. How much I look forward to being able to discuss all these questions with you. Because now we may really hope (not like {2} up to now, being mocked) that we stand on the threshhold of peace. Czernin and Kühlmann will put everything right. Perhaps I will already be free in the springtime. In terms of my health I am just barely holding myself together, without collapsing. My doctor has strong reservations about my ambitious work plans and advises me to take a half year of habituation in the sun. But I cannot make that possible whatsoever.

Here unfortunately I am able to work very little. I do not arrive home in the evening until six o’clock after having spent eight hours at the office and having {3} worked on the economic life in Lithuania. In the evening my brain is like a fountain pen with no ink. For the most part I still have to work as a concert or opera critic, so I actually only find an hour every now and again to look at a book. My entire nervous system has been thrown into disarray by this dreadfully long war. Sometimes I feel completely afraid of taking on a large-scale work, which makes great demands on all one's energies, especially since I am entirely and altogether removed from all music.

{4} When Halm's article is published, please indicate the name of the journal to me so that I can obtain this work.

As I wish for you the longed-for peace in the new year as well as everything beautiful from all of us, and especially the energy to work and joy, I hope that soon I will finally be able to shake your hand.


With warmest greetings,
your thankful devotee,
[signed:] Walter Dahms

© Translation John Koslovsky, 2012

Footnotes

1 Receipt of this letter, which is written in Sütterlinschrift, is recorded at OJ 2/10, p. 822, January 3, 1918: "Von Dahms (Br.): dankt für meinen Brief, hofft bald zu mir kommen zu können, schildert sein gegenwärtiges körperliches Ungemach u. erkundigt sich nach Halm." ("From Dahms (letter): thanks [me] for my letter, hopes to be able to visit me soon, describes his present ailment, and inquires after Halm."). His reply follows it directly: "An Dahms (K.): nenne die „Freie Schulgemeinde“. ("To Dahms (postcard): I give the name of the "Free School Community.").

2 Writing of this letter is recorded in Schenker's diary at OJ 2/9, p. 802, November 28, 1917: "An Dahms Brief fertiggestellt: nehme seine Erwähnung des Riemann’schen Lexikons zum Anlaß, um das ominöse Wörtchen „auch“ im Lichte des wahren Sachverhaltes zu beleuchten, u. erzähle wie sich R. an mich wandte, was ich ihm hierauf zur Antwort gab u. was er nun endlich aus dieser entnommen. Bezüglich Bruckners erkläre ich besser zu tun, wenn ich es auf eine ausführliche Darstellung im „Niedergang“ usw. ankommen lasse, die Erfahrung mit Grunsky u. Halm hätten mir ein solches Verhalten nahegelegt. Indessen will ich gerne einige Punkte herausgreifen, bloß um zu zeigen, wie wenig die Einwände gegen Bruckner lediglich auf Reflexion oder auf einen absoluten Standpunkt zurückzuführen sind. In diesem Zusammenhang erwähne ich der Tonikaanfänge (Sinfonie ist kein musikalischer Dekalog!), der allzu üppigen Terzschritte u. werfe Br. überhaupt Mangel an Fluß der Fantasie vor.
("To Dahms letter completed: take his mention of the Riemann’s Encyclopedia as an occasion for elucidating the ominous little word "also," in the light of the true state of affairs, and recount how R. turned to me, what I gave him thereupon as an answer and what he finally took from this. Regarding Bruckner I declare it were better, if I take my chances with an extensive account in "Decline" etc., the experience with Grunsky and Halm has suggested such a reaction to me. Meanwhile I wish to pick out a few points, if merely to show how little the objections to Bruckner are simply attributable to reflection, or to an absolute standpoint. In connection with this I mention the tonic beginnings (a Symphony is not a musical Decalogue!), the all too lush steps in thirds, and even accuse Bruckner of a lack of flow of imagination.").

3 Sending of the card is recorded in Schenker's diary at OJ 2/9, p. 801, December 1, 1917: "An Dahms (Br.): bloß die Karte beigelegt, die ich dem Brief beizugeben vergessen habe." ("To Dahms (letter): merely including the card which I had forgotten to attach in my letter.").