Charlottenburg
Neue Kantstr. 1. den 9. 11. 17.

Hochverehrter Meister! 1

Aus Berlin schrieb ich Ihnen wohl schon, daß es mir nun endlich gelungen ist, eine Versetzung hierher zum Kriegsministerium durchzudrücken. Ich habe zwar dienstlich viel tun und komme verhältnismäßig wenig zur Besinnung. Aber ich kann doch wieder in die Konzerte gehen und dann und wann eine ruhige Abendstunde zu Hause verbringen. Leider entwölkt sich ja der politische Gewitterhimmel immer noch nicht, sodaß man alle Zukunftshoffnungen immer wieder zurückstellen muß ins Unbestimmte.

Kürzlich hatten wir auch in Berlin die „Sensation“ des Opernkomponisten Korngold, die eigentlich gar keine Sensation sondern etwas im höchsten Grade Langweiliges ist. Aber kurios ist es, welche Eiertänze die Kritik ausführt, um nur ja nach keiner Seite anzustoßen. Solche Dinge sind eigentlich mehr Charaker- als Kunstangelegenheiten, und es enthüllt sich meist ein derartiger erbärmlicher Tiefstand der Gesinnung neben der Unfähigkeit, daß es ein trauriges Schauspiel ist.

Ein Fest war für mich letztens die Aufführung der III. d-moll-Sinfonie von Bruckner, die Nikisch 2 nach meiner Meinung (Ferdinand Löwe {2} kenne ich nicht) ganz ausgezeichnet zur Darstellung gebracht hat. Ich habe ein großes Bruckner-Herz. Seine Musik berührt mich immer so unmittelbar, ohne daß ich das Bedürfnis der Reflexion dabei hätte, sodaß ich mich ihrem „Zauber“ (für mich im wahrsten Sinne des Wortes) niemals entziehen kann. Im Riemann las ich, daß Bruckner Ihr Lehrer gewesen ist. Ich bin begierig, später viel von Ihnen darüber zu hören.

Jetzt aber möchte ich vor allem wissen, ob Sie in Tirol Erholung und Muße gefunden haben, den Kontrapunkt II zu beenden. Das wäre das Wichtigste für uns alle. Meine Gesundheit hält sich trotz der Großstadt-Entbehrungen so einigermaßen auf der Höhe; ich wünsche nur, daß es so bleibt.


Mit der Bitte um einige Zeilen gelegentlich
grüßt Sie herzlich
Ihr stets dankbar ergebener
[signed:] Walter Dahms

© Transcription John Koslovsky, 2012


Charlottenburg,
Neue Kantstraße 1, November 9, 1917

Highly revered Master, 1

From Berlin I have already written to you that I have finally managed to push through a transfer to the War Ministry here. I have many official matters to attend to and have relatively little time for reflection. But I am able once again to attend concerts and every now and again spend some time at home to relax in the evening. Unfortunately the political storm clouds have yet to clear, and one must continue to postpone all hopes for the future indefinitely.

Recently in Berlin we had the "sensational" opera composer Korngold, who is actually hardly a sensation but rather something of a bore of the highest caliber. But how curious it is to see how the critics walk on eggshells simply in order not to take any sides. Such things actually have more to do with character than with art, and it mainly reveals a terribly low level of conviction coupled with the inability to see that it is a pitiful production.

A real treat for me was the recent performance of Bruckner's Third Symphony in D minor, which in my opinion Nikisch 2 (Ferdinand Löwe {2} I do not know) executed superbly. I have a great love for Bruckner. His music touches me with such immediacy, without the need for reflection, that I can never escape its "magic" (for me in the truest sense of the word). In Riemann's Lexikon I read that you were a student of Bruckner. I am eager to hear all about him from you at some later point.

For now however I would like to know above all whether you have found recovery and leisure time in the Tyrol with which to bring Counterpoint 2 to completion. This is the most important thing for all of us. My health is holding up in some respects despite the deprivation of the metropolis; I only hope that it remains so.


Hoping you can sometime drop me a few lines,
Your ever-thankful devotee,
sends you cordial greetings,
[signed:] Walter Dahms

© Translation John Koslovsky, 2012


Charlottenburg
Neue Kantstr. 1. den 9. 11. 17.

Hochverehrter Meister! 1

Aus Berlin schrieb ich Ihnen wohl schon, daß es mir nun endlich gelungen ist, eine Versetzung hierher zum Kriegsministerium durchzudrücken. Ich habe zwar dienstlich viel tun und komme verhältnismäßig wenig zur Besinnung. Aber ich kann doch wieder in die Konzerte gehen und dann und wann eine ruhige Abendstunde zu Hause verbringen. Leider entwölkt sich ja der politische Gewitterhimmel immer noch nicht, sodaß man alle Zukunftshoffnungen immer wieder zurückstellen muß ins Unbestimmte.

Kürzlich hatten wir auch in Berlin die „Sensation“ des Opernkomponisten Korngold, die eigentlich gar keine Sensation sondern etwas im höchsten Grade Langweiliges ist. Aber kurios ist es, welche Eiertänze die Kritik ausführt, um nur ja nach keiner Seite anzustoßen. Solche Dinge sind eigentlich mehr Charaker- als Kunstangelegenheiten, und es enthüllt sich meist ein derartiger erbärmlicher Tiefstand der Gesinnung neben der Unfähigkeit, daß es ein trauriges Schauspiel ist.

Ein Fest war für mich letztens die Aufführung der III. d-moll-Sinfonie von Bruckner, die Nikisch 2 nach meiner Meinung (Ferdinand Löwe {2} kenne ich nicht) ganz ausgezeichnet zur Darstellung gebracht hat. Ich habe ein großes Bruckner-Herz. Seine Musik berührt mich immer so unmittelbar, ohne daß ich das Bedürfnis der Reflexion dabei hätte, sodaß ich mich ihrem „Zauber“ (für mich im wahrsten Sinne des Wortes) niemals entziehen kann. Im Riemann las ich, daß Bruckner Ihr Lehrer gewesen ist. Ich bin begierig, später viel von Ihnen darüber zu hören.

Jetzt aber möchte ich vor allem wissen, ob Sie in Tirol Erholung und Muße gefunden haben, den Kontrapunkt II zu beenden. Das wäre das Wichtigste für uns alle. Meine Gesundheit hält sich trotz der Großstadt-Entbehrungen so einigermaßen auf der Höhe; ich wünsche nur, daß es so bleibt.


Mit der Bitte um einige Zeilen gelegentlich
grüßt Sie herzlich
Ihr stets dankbar ergebener
[signed:] Walter Dahms

© Transcription John Koslovsky, 2012


Charlottenburg,
Neue Kantstraße 1, November 9, 1917

Highly revered Master, 1

From Berlin I have already written to you that I have finally managed to push through a transfer to the War Ministry here. I have many official matters to attend to and have relatively little time for reflection. But I am able once again to attend concerts and every now and again spend some time at home to relax in the evening. Unfortunately the political storm clouds have yet to clear, and one must continue to postpone all hopes for the future indefinitely.

Recently in Berlin we had the "sensational" opera composer Korngold, who is actually hardly a sensation but rather something of a bore of the highest caliber. But how curious it is to see how the critics walk on eggshells simply in order not to take any sides. Such things actually have more to do with character than with art, and it mainly reveals a terribly low level of conviction coupled with the inability to see that it is a pitiful production.

A real treat for me was the recent performance of Bruckner's Third Symphony in D minor, which in my opinion Nikisch 2 (Ferdinand Löwe {2} I do not know) executed superbly. I have a great love for Bruckner. His music touches me with such immediacy, without the need for reflection, that I can never escape its "magic" (for me in the truest sense of the word). In Riemann's Lexikon I read that you were a student of Bruckner. I am eager to hear all about him from you at some later point.

For now however I would like to know above all whether you have found recovery and leisure time in the Tyrol with which to bring Counterpoint 2 to completion. This is the most important thing for all of us. My health is holding up in some respects despite the deprivation of the metropolis; I only hope that it remains so.


Hoping you can sometime drop me a few lines,
Your ever-thankful devotee,
sends you cordial greetings,
[signed:] Walter Dahms

© Translation John Koslovsky, 2012

Footnotes

1 Receipt of this letter, which is written in Sütterlinschrift, is recorded at OJ 2/8, p. 794, November 13, 1917: "Von Dahms (Br.) aus Berlin): könne nun Konzerte besuchen u. sich auch sonst geistig betätigen; habe ein Herz für Bruckner! würde mich gerne darüber befragen." ("From Dahms (letter from Berlin): is now able to attend concerts and otherwise become mentally active; says he has a heart for Bruckner! would like to query me about this.").

2 Arthur Nikisch (1855-1922), a Hungarian conductor of great renown. On January 21, 1927 Dahms wrote an article for the Berliner Börsen-Zeitung commemorating five years since Nikisch’s death: "Arthur Nikisch. Zur Errinerung an seinen Todestag, 23. Januar."