Wilna, den 13. 10. 16.

Lieber Herr Doktor! 1

Gerade als ich von Wilna aus einige Tage auf Urlaub in Berlin war, fand ich Ihren freundlichen, ausführlichen Brief 2 vor. Wie Sie sehen, bin ich trotz meiner Krankheit und trotzdem ich als nicht geheilt (und auch für die nächsten Jahre nicht heilbar) aus dem Lazarett entlassen worden bin, immer noch Soldat und zwar nun in Wilna beim Deutschen Stadthauptmann, wo ein für mich sehr schlimmes Klima herrscht – nämlich sumpfige, feuchte Luft. Anscheinend sind immer noch zu viel gesundere junger Leute reklamiert in Berlin, sodass man die Kranken im Militärdienst behalten muss.

Der Versuch, der von Berlin aus für {2} meine Beurlaubung auf längere Zeit unternommen wurde und der erfolgversprechend genug unter höchster Befürwortung der Prinzessin August Wilhelm von Preussen an das zuständige Generalkommando ging, ist nicht weiter gedrungen. Wo diese Sache stecken mag, dass wissen die Götter oder irgend eine meines Erachtens durch nichts gerechtfertigte Beamtenwillkür. Dessen ungeachtet hoffe ich immer noch, das irgend etwas anderes für mich geschieht.

Die Stelle an der Wiener Abendzeitung ist also zu Recht besetzt worden. Vielleicht ist es auch ganz gut, dass es so gekommen ist. Denn eine Stelle, die Herr Siegmund Pisling einnimmt, wäre wohl nichts für mich. Jedenfalls habe ich aus den Referaten pp. Pislings diesen Eindruck. {3} Die „Einführung“ Pislings und der Wert, den er auf Ihre Bekanntschaft legt, die kuriose Art des Mannes scheint ein wenig lächelbar. Jedenfalls können Sie ja Herrn Pisling getrost „abwarten.“

Ich freue mich so aufrichtig, dass der Kontrapunkt II nun druckfertig daliegt. Der Segen, den Ihr Wirken für die Musik bedeuten wird, liegt schon heute offen da für jeden, der zu sehen vermag oder den Ohren hat zu hören. Auch dies können Sie ja abwarten. Es kommt mit Naturnotwendigkeit.

Wenn ich nur erst frei wäre, um endlich „arbeiten“ zu können. Hier wird viel geistige Kraft vergeudet. Ich habe eine, wenn ich alle Sehnsucht ersticke, angenehme Position, da mir {4} die Aufsicht über die Bibliotheken, Archive u. Museen Wilnas anvertraut worden ist. Daneben habe ich noch gewisse Zeitungsarbeiten zu erledigen.

Haben Sie vielen herzlichen Dank für Ihre liebenswürdigen Bemühungen. Ich vertröste mich mit dem Gedanken, dass es ja mit dem Wahnsinn auch einmal ein Ende habe muss. Dann kommt ein grosser Schlussstrich und neue Anfang.


Mit herzlichen Gruss
Ihr treuergebener
[signed:] Walter Dahms

© Transcription John Koslovsky, 2012


Wilna, October 13, 1916

Dear Dr. [Schenker], 1

Just as I was on leave for a few days from Wilna in Berlin, I came across your kind and extensive letter. 2 As you can see, despite my illness and despite not having been released from the military hospital cured (and also for the coming years not curable) I am still a soldier and am in Wilna at the German city authority, where for me a very bad climate prevails – namely swampy and damp air. Apparently there are still too many healthier young people claimed in Berlin, so they have to keep the sick ones in military service.

The attempt that was undertaken from Berlin {2} to grant me extended leave, and which promisingly enough received the highest endorsement of the Princess to August Wilhelm of Prussia, has not progressed any further. Where this case may get stuck can be known only by the gods or (as I think) through some wholly unjustified arbitrariness of a civil servant. Regardless of this I still hope that something else will happen for me.

The position at the Vienna Abend newspaper has rightly been taken. Perhaps it is all the better that it has come about so. Because a position that Mr Siegmund Pisling takes would not be for me whatsoever. In any case I got this impression from Pisling's presentations per procura. {3} Pisling's "Introduction" and the value that he places on your acquaintance, along with the curious behavior of the man all seems a bit laughable. In any case you can confidently "wait" for Mr Pisling.

I am genuinely excited that Counterpoint 2 is now ready for printing. The boon for music that your works will signify is already apparent today for those who can see or for those who have ears to hear. Even this you can wait for. It comes with the necessity of nature.

If I were only free to finally to be able to "work." Here so much intellectual energy is squandered. When I suppress all the longing, I have quite a pleasant position, in which I {4} am entrusted with the supervision of the libraries, archives and museums in Wilna. In addition I still have some work at the newspaper to carry out.

Please have thanks for your kind efforts. It gives me promise to think that even insanity must have an end. Then a huge double bar line and a new beginning commences.


With cordial greetings,
Your truly devoted
[signed:] Walter Dahms

© Translation John Koslovsky, 2012


Wilna, den 13. 10. 16.

Lieber Herr Doktor! 1

Gerade als ich von Wilna aus einige Tage auf Urlaub in Berlin war, fand ich Ihren freundlichen, ausführlichen Brief 2 vor. Wie Sie sehen, bin ich trotz meiner Krankheit und trotzdem ich als nicht geheilt (und auch für die nächsten Jahre nicht heilbar) aus dem Lazarett entlassen worden bin, immer noch Soldat und zwar nun in Wilna beim Deutschen Stadthauptmann, wo ein für mich sehr schlimmes Klima herrscht – nämlich sumpfige, feuchte Luft. Anscheinend sind immer noch zu viel gesundere junger Leute reklamiert in Berlin, sodass man die Kranken im Militärdienst behalten muss.

Der Versuch, der von Berlin aus für {2} meine Beurlaubung auf längere Zeit unternommen wurde und der erfolgversprechend genug unter höchster Befürwortung der Prinzessin August Wilhelm von Preussen an das zuständige Generalkommando ging, ist nicht weiter gedrungen. Wo diese Sache stecken mag, dass wissen die Götter oder irgend eine meines Erachtens durch nichts gerechtfertigte Beamtenwillkür. Dessen ungeachtet hoffe ich immer noch, das irgend etwas anderes für mich geschieht.

Die Stelle an der Wiener Abendzeitung ist also zu Recht besetzt worden. Vielleicht ist es auch ganz gut, dass es so gekommen ist. Denn eine Stelle, die Herr Siegmund Pisling einnimmt, wäre wohl nichts für mich. Jedenfalls habe ich aus den Referaten pp. Pislings diesen Eindruck. {3} Die „Einführung“ Pislings und der Wert, den er auf Ihre Bekanntschaft legt, die kuriose Art des Mannes scheint ein wenig lächelbar. Jedenfalls können Sie ja Herrn Pisling getrost „abwarten.“

Ich freue mich so aufrichtig, dass der Kontrapunkt II nun druckfertig daliegt. Der Segen, den Ihr Wirken für die Musik bedeuten wird, liegt schon heute offen da für jeden, der zu sehen vermag oder den Ohren hat zu hören. Auch dies können Sie ja abwarten. Es kommt mit Naturnotwendigkeit.

Wenn ich nur erst frei wäre, um endlich „arbeiten“ zu können. Hier wird viel geistige Kraft vergeudet. Ich habe eine, wenn ich alle Sehnsucht ersticke, angenehme Position, da mir {4} die Aufsicht über die Bibliotheken, Archive u. Museen Wilnas anvertraut worden ist. Daneben habe ich noch gewisse Zeitungsarbeiten zu erledigen.

Haben Sie vielen herzlichen Dank für Ihre liebenswürdigen Bemühungen. Ich vertröste mich mit dem Gedanken, dass es ja mit dem Wahnsinn auch einmal ein Ende habe muss. Dann kommt ein grosser Schlussstrich und neue Anfang.


Mit herzlichen Gruss
Ihr treuergebener
[signed:] Walter Dahms

© Transcription John Koslovsky, 2012


Wilna, October 13, 1916

Dear Dr. [Schenker], 1

Just as I was on leave for a few days from Wilna in Berlin, I came across your kind and extensive letter. 2 As you can see, despite my illness and despite not having been released from the military hospital cured (and also for the coming years not curable) I am still a soldier and am in Wilna at the German city authority, where for me a very bad climate prevails – namely swampy and damp air. Apparently there are still too many healthier young people claimed in Berlin, so they have to keep the sick ones in military service.

The attempt that was undertaken from Berlin {2} to grant me extended leave, and which promisingly enough received the highest endorsement of the Princess to August Wilhelm of Prussia, has not progressed any further. Where this case may get stuck can be known only by the gods or (as I think) through some wholly unjustified arbitrariness of a civil servant. Regardless of this I still hope that something else will happen for me.

The position at the Vienna Abend newspaper has rightly been taken. Perhaps it is all the better that it has come about so. Because a position that Mr Siegmund Pisling takes would not be for me whatsoever. In any case I got this impression from Pisling's presentations per procura. {3} Pisling's "Introduction" and the value that he places on your acquaintance, along with the curious behavior of the man all seems a bit laughable. In any case you can confidently "wait" for Mr Pisling.

I am genuinely excited that Counterpoint 2 is now ready for printing. The boon for music that your works will signify is already apparent today for those who can see or for those who have ears to hear. Even this you can wait for. It comes with the necessity of nature.

If I were only free to finally to be able to "work." Here so much intellectual energy is squandered. When I suppress all the longing, I have quite a pleasant position, in which I {4} am entrusted with the supervision of the libraries, archives and museums in Wilna. In addition I still have some work at the newspaper to carry out.

Please have thanks for your kind efforts. It gives me promise to think that even insanity must have an end. Then a huge double bar line and a new beginning commences.


With cordial greetings,
Your truly devoted
[signed:] Walter Dahms

© Translation John Koslovsky, 2012

Footnotes

1 Receipt of this letter is recorded in Schenker's diary at OJ 2/4, pp. 469‒70, October 17, 1916: "Von Dahms (Br.): bestätigt den Erhalt meiner Mitteilung bezüglich des „Abend“; schildert wie schlecht seine Gesundheit beschaffen u. wie er trotz Befürwortung von einer der höchsten Stellen den Abschied von der Armee dennoch immer nicht erhalten könnte; bekleidet im übrigen eine angenehme Stelle in Wilna als Leiter der Museen u. Bibliotheken. Den Durchbruch meiner Lehren sieht er schon heute, hält ihn unter allen Umständen Naturnotwendigkeit. ("From Dahms (letter): confirms receipt of my communication re Der Abend; describes how bad his health has become and how despite recommendation from one of the highest authorities he has still been unable to obtain his release from the army; for the rest, he occupies a pleasant position in Wilna as director of the museums and libraries. He see the breakthrough of my teachings already today, considers it at all events a necessity of nature.").

2 Writing of this letter, which is not known to survive, is recorded in Schenker's diary at OJ 2/4, p. 4??, September 22, 1916: "An Dahms (Br.): teile ihm das Resultat Colbert‒Pisling mit, erkundige mich nach seinem Befunden, ermahne die II2 u. des „Kunstwarts“. (To Dahms (letter): inform him of the outcome of Colbert‒Pisling, inquire after his health, notify him of vol. II Part 2 and of Der Kunstwart."). For Colbert‒Pisling, see OJ 10/1, [22], footnote.